Gegen den Ehrenkodex wird nicht nur auf einem Luxusliner verstoßen – auch in der Wirtschaft agieren gewissenlose und unfähige Manager.

Der Kapitän verlässt als Letzter sein sinkendes Schiff. Für diese Regel gibt es kein Gesetz. Und doch sind wir schockiert vom Verhalten Francesco Schettinos, Kapitän des verunglückten Kreuzfahrtdampfers "Costa Concordia". Die öffentliche Meinung hat ihr Urteil gefällt. Der Mann habe verantwortungslos gehandelt und sich feige aus dem Staub machen wollen.

Ein Sprichwort der Lakota-Indianer sagt: "Urteile niemals über einen Mann, solange du nicht eine Meile in seinen Mokassins gelaufen bist." Ignorieren wir diese Weisheit, indem wir schon jetzt den Stab über Schettino brechen? Nein. Denn gemessen wird er an seinen Taten.

Schettino hat gegen einen Ehrenkodex verstoßen, ein ungeschriebenes, aber seit Jahrhunderten gültiges Gesetz seiner Zunft. Als er sich entschieden hat, das Amt des Kapitäns zu übernehmen, hat er stillschweigend auch dem Ehrenkodex zugestimmt. Ein solcher Kodex wirkt antiquiert, aber er ist im Grunde die Basis unseres Verständnisses von guter Führung. Ein Mann wie Schettino erschüttert dieses Prinzip und enttäuscht damit unser Vertrauen. Immerhin: Er wird dafür vermutlich bezahlen.

Bedauerlich ist nur, dass dieser Ehrenkodex nicht fürs gesamte Arbeitsleben gilt. Wie oft erleben wir, dass Unternehmen Schiffbruch erleiden, weil unfähige, gewissenlose Manager sie auf Untiefen gesteuert haben. Dabei verlieren nicht wenige Mitarbeiter ihre Existenz. Die Schettinos aus dem Top-Management aber setzen sich mit gefüllten Konten ab und heuern anderswo an.

Hoffnung gibt mir, dass es andere Kapitäne gibt. Denken Sie an Chesley B. Sullenberger. Er war der Held, der vor drei Jahren einen Airbus A320 im Hudson River notlandete. Niemand starb. Er ging als Letzter von Bord.