Früher Lehrerin, heute erfolgreiche Kinderbuchautorin: Kirsten Boie schätzt auch das Scheitern- als Anregung, sich zu hinterfragen.

Vor 27 Jahren wirbelte das Leben die beruflichen Pläne von Kirsten Boie kräftig durcheinander. Der unerwartete Gegenwind trug sie jedoch nicht aus der Bahn, sondern brachte sie an den Ausgangspunkt ihrer Karriere: Heute ist sie eine der erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautorinnen Deutschlands.

Boies erstes Kinderbuch "Paule ist ein Glücksgriff", erschienen 1985, wäre nie zustande gekommen, wäre alles nach Plan verlaufen. Zwei Jahre zuvor adoptierte sie ihren Sohn und hatte gerade wieder 14 Tage als Lehrerin gearbeitet, als das Jugendamt verfügte, sie müsse zu Hause bleiben - wenn sie nicht ihren Sohn wieder hergeben wolle. Abfinden wollte sich Boie mit den Sanktionen des Jugendamts aber nicht. Auf der Suche nach Alternativen überlegte die Lehrerin zunächst, Groschenromane zu schreiben. Doch dann fielen ihr eines Abends beim Füttern des Sohnes die ersten Sätze für ein Kinderbuch ein: "Bei anderen Kindern ist alles ganz einfach. Sie wachsen bei einer Frau im Bauch, und dann werden sie geboren."

Als ihr Sohn an diesem Abend eingeschlafen war, begann Boie zu schreiben. Die ersten drei Kapitel schickte sie einige Wochen später an mehrere Verlage. Es kamen zwei Zusagen - von Oetinger und Rotfuchs. "Das Thema Adoption war damals eine Marktlücke", sagt die 62-Jährige. "Andernfalls wäre es sicherlich nicht so glatt gelaufen." Ihre Devise: Wo man landet, das Beste daraus machen. Frei nach dem afrikanischen Sprichwort: "Wo Gott dich hingesät hat, sollst du blühen."

Das tut sie. Wer seinen Kinder vorliest, kennt ihren Namen oder Titel ihrer Bücher. "Der kleine Ritter Trenk" oder "Wir Kinder aus dem Möwenweg". Für Jugendliche schrieb sie "Die Medlevinger" und "Skogland". Bis heute wurden gut 80 Titel von ihr veröffentlicht. 2007 erhielt Boie den Jugendliteraturpreis für ihr Lebenswerk und 2008 den Großen Preis der Akademie für Kinder- und Jugendliteratur.

Bücher schreiben wollte Kirsten Boie eigentlich schon als Kind. Doch es schien, als ob das ein Wunschtraum bleiben sollte. "Als Jugendliche wurde mir zunehmend ein sicheres Auskommen wichtig", sagt Boie. Und auch das Fach Chemie interessierte sie am Gymnasium in den 60er-Jahren.

Nachdem der Berufsberater vom Arbeitsamt jedoch von einem Chemiestudium mit dem Ziel Forschung abriet und ihr stattdessen ein Faltblatt zur Laborassistentin in die Hand drückte, entschied sie sich für Literaturwissenschaft in Hamburg. "Damals wollte ich Journalistin werden oder vielleicht auch Bücher schreiben."

"Doch je mehr Texte man analysiert, umso kritischer wird man", sagt sie. Ihren wachsenden Ansprüchen genügten die eigenen Fähigkeiten immer weniger. Kurz entschlossen kippte sie ihre Pläne und machte ein Praktikum als Lehrerin. "Es hat mir richtig Spaß gemacht, auch wenn ich vorher nie Lehrerin werden wollte." Manchmal müsse man eben erst ausprobieren, ob eine Sache interessant sei. Es folgten das Studium auf Lehramt für die Fächer Deutsch und Englisch sowie die Promotion in Literaturwissenschaft.

+++Verdienstkreuz erster Klasse für Kirsten Boie+++

1978 begann sie als Lehrerin am Gymnasium in Oldenfelde. Ein sozial abgesichertes Umfeld, ein hoher Bildungsanspruch. Doch es blieb das Gefühl, nur einen schmalen Ausschnitt von heiler Welt kennenzulernen und damit zu wenig von der Gesellschaft. Nach vier Jahren bewarb sich Boie deshalb an einer ganztägigen Gesamtschule in Mümmelmannsberg, ihrer letzten Station als Lehrerin.

"Wer für Kinder schreibt, muss sich in sie einfühlen können", sagt Boie. Heute gelingt ihr das durch Lesungen und Workshops mit jungen Lesern. "Kindheit verändert sich zurzeit rasend schnell, da ist es wichtig, an der Zielgruppe dranzubleiben."

Die Konkurrenz ist groß. Jedes Jahr drängen rund 6000 neue Kinder- und Jugendbücher auf den Markt. "Damit ein Titel überhaupt wahrgenommen wird, muss einiges getan werden", sagt Boie. Und so kann auch sie sich aus der Vermarktung ihrer Bücher nicht völlig ausschließen. "Auch wenn ich es weitgehend versuche." Sie gibt Interviews, hat eine eigene Seite im Internet und ist inzwischen auch bei Facebook aktiv. Zum Privaten zieht sie eine Grenze: "Eine Homestory würde ich nie machen."

+++Kirsten Boies neuer Krimi für Kinder+++

Mehr Zeit setzt sie für ehrenamtliches Engagement ein, im vergangenen Jahr bekam sie dafür das Bundesverdienstkreuz. Sie ist zum Beispiel Schirmherrin der Wilhelmsburger Lesewochen und des Projekts Buchstart Hamburg. "Bei meinen Lesungen in Schulen quer durch Stadtteile und Bildungsschichten sehe ich, dass oft schon in der ersten Klasse die Chancen klar verteilt sind", sagt Boie. Deshalb möchte sie Kinder aus bildungsfernen Familien früh für Bücher begeistern.

Sie setzt sich auch darüber hinaus für Schwächere in der Gesellschaft ein. Wie etwa mit dem Kinderbuch "Ein mittelschönes Leben", erschienen zum 15-jährigen Bestehen des Obdachlosen-Projekts "Hinz & Kunzt". Die Einnahmen gingen an den Verein. Mit der Geschichte vom Leben eines Obdachlosen besucht sie inzwischen mit "Hinz &Kunzt"-Verkäufern Schulen, um Verständnis für das Thema zu wecken.

Boie setzt sich jeden Morgen gleich nach dem Frühstück an ihren Laptop und schreibt erst einmal drei Stunden - viele Jahre am Küchentisch, inzwischen im Arbeitszimmer. "Auch wenn ich keine Lust habe, die kommt beim Schreiben", sagt Kirsten Boie. Ihr Anspruch: "Literatur für Kinder soll auch wirklich Literatur sein." Und Spaß machen. Bücher über Ritter oder Piraten hat sie ebenso geschrieben wie über Mobbing in der Schule, Depression oder die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Hamburg. Und sich dabei immer wieder in unterschiedlichen Tonlagen versucht.

"Zu viel Routine schadet eher der kreativen Arbeit", sagt Boie. Es müsse immer ein Rest Unsicherheit bleiben, aus dem sich auch neue Ideen entwickeln können.

Trotz aller Erfolge - auch für Boie bleiben schlechte Kritiken nicht aus. Wie etwa für ihr Buch "Ich ganz cool", erschienen 1992, als sie noch wenig bekannt war, in dem der Schüler Steffen in reduziertem Jargon und manchmal derben Worten von seinem Leben im Sozialhilfe-Milieu erzählt. Nach dem Erscheinen gab es Anfeindungen von Lesern, einige Buchläden schickten ganze Partien zurück. "Das trifft einen schon persönlich", sagt Boie.

Frei von Zweifeln ist sie nicht. "Das eröffnet aber auch neue Wege", sagt Boie, die überzeugt ist, dass deshalb auch schwächere Bücher die Entwicklung vorantreiben. Denn erst durch Scheitern hinterfrage man die eigene Arbeit intensiver. "Alles andere würde ja sonst in Selbstgerechtigkeit und Trägheit münden."