Lubmin. Alle blicken bang auf die Frage, ob Russland den Betrieb der Gasleitung durch die Ostsee nach Deutschland in Kürze wieder anfährt. Unabhängig vom Ausmaß ist so gut wie klar: Eine Drosselung der Menge - oder gar ihr Ausfall - dürfte die Preise weiter treiben.

Technische Arbeiten an der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 sollen kurz vor dem Abschluss stehen, nach Auskunft des Betreibers steht die wichtige Erdgas-Route am Donnerstag ab 6.00 Uhr wieder zur Verfügung.

Privatverbraucher und Industrie hoffen, dass der Rohstoff aus Russland dann regulär fließt. Aussagen von Kremlchef Wladimir Putin lassen aber darauf schließen, dass zunächst nur 40 Prozent der möglichen Menge geliefert und diese Ende Juli gesenkt werden könnte.

Vorläufige Daten des Netzbetreibers Gascade vom Mittwochnachmittag legen ein Anlaufen des Betriebs nahe. Der Umfang ist allerdings ungewiss. Gaskunden müssen auf mehrere Szenarien eingestellt bleiben.

Wie steht es aktuell um die Gaspreise?

Kurze Verträge abschließen, um bald einen billigeren zu bekommen - das galt unter Verbrauchern lange als gute Strategie. Bei Erdgas wurde so etwas zuletzt aber böse bestraft, denn die Teuerung nahm rasant zu: Binnen eines Jahres schnellten die Preise für Haushalte im Schnitt um 159 Prozent nach oben, wie das Vergleichsportal Verivox mitteilt. Kostete Gas für eine Nutzenergie von 20.000 Kilowattstunden im Juli 2021 noch 1236 Euro, waren es im Juli 2022 schon 3199 Euro.

Warum schlagen die Erhöhungen so stark auf die Endverbraucher durch?

Auch im internationalen Rohstoffgroßhandel sind die Zuwächse enorm. Nach Angaben des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts lag der mit einem globalen Index ermittelte Gaspreis im Juni um fast 130 Prozent über dem Vorjahreswert. Nicht-russisches Gas, das Länder und Konzerne sich kurzfristig noch beschaffen können, ist oft nur gegen deutliche Aufschläge zu haben. Viele Großeinkäufer müssen die erhöhten Preise dann an die Versorger und diese dann an die Endkunden weitergeben.

Wie könnte es weitergehen mit dem Gaspreis?

Das Ende des Anstiegs ist wohl noch nicht erreicht. Für den August und September kündigten laut Verivox 52 örtliche Gas-Grundversorger Preiserhöhungen um durchschnittlich 50 Prozent an. «Sollten die Gaslieferungen weiter gedrosselt werden oder sogar ganz wegfallen, ist sogar eine Verdreifachung realistisch», hieß es. Strom würde dann ebenso noch einmal teurer. Check24 spricht für die beiden nächsten Monate von insgesamt 98 bekannten Fällen mit Gastarif-Erhöhungen in einer Größenordnung von jeweils über 51 und 57 Prozent - etwa eine Million Haushalte seien davon betroffen. Sicher ist also, dass eine weitere Verknappung die Energiepreise zusätzlich antreiben dürfte. Das Ausmaß hängt von den tatsächlichen Liefereinschränkungen ab.

Bin ich mit einem langfristigen, recht günstigen Vertrag abgesichert?

Nein. Auch Verbraucher, die länger laufende Verträge haben, müssen sich auf Extra-Kosten einrichten. Der Preisanstieg wird derzeit noch etwas abgebremst, weil Gasimporteure wie Uniper die Mehrbelastungen nicht an ihre Bestandskunden weiterreichen dürfen. Nach einer Gesetzesänderung soll sich das jedoch ändern. Bisher ist unklar, ob es hierzu ein Umlagesystem gibt oder die tiefrot wirtschaftenden Importeure Preiserhöhungen auf ihre Abnehmer - Stadtwerke und die Industrie - überwälzen dürfen. Es wird aber wohl so oder so teurer.

Was wären die Folgen für die Speicher und die Versorgung im Winter?

Präzise abschätzen lässt sich das heute nicht. Fest steht allerdings: Sollte nur wenig Leitungskapazität von Nord Stream 1 genutzt werden, würde sich die Gasknappheit auch mit Blick auf die kalte Jahreszeit verschärfen. Schon vor Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine waren die Speicherstände niedriger als in den Vorjahren. Den letzten aktuellen Gesamtwert für Deutschland gab die Datenbank des Netzwerks Gas Infrastructure Europe für Montag (18. Juli) mit 65 Prozent an. Im größten deutschen Speicher in Rehden waren es nur knapp 34 Prozent. Der dortige Betreiber gab sich relativ zuversichtlich: Man habe bisher «keine Auswirkungen des Nord-Stream-Stillstandes» feststellen können und nehme auch an, «dass weiterhin eingespeichert wird».

Von welchen Szenarien geht die Bundesnetzagentur aus?

Sie rechnete unlängst durch, wie sich der Speicherstand im Herbst und Winter bei einer 40-Prozent-Lieferung entwickeln würde. Ergebnis: Nur wenn der Gasverbrauch dank Sparmaßnahmen um ein Fünftel sinke und ab Januar neue Terminals für verflüssigtes Erdgas (LNG) gut genutzt würden, sei das zu packen. Geht die Menge durch Nord Stream 1 stärker zurück, müsste mehr eingespart werden. Der Netzbetreiber Gascade, der für die zwei Empfangspunkte der Pipeline im vorpommerschen Lubmin zuständig ist, stellt sich laut jüngsten Daten grundsätzlich auf ein Wiederanlaufen ein. Lieferungen waren dort am Mittwoch vorgemerkt.

Wie sehr ist Deutschland zurzeit noch auf russisches Gas angewiesen?

Vorerst bleibt die Abhängigkeit bestehen. Der Anteil der russischen Gaslieferungen - lange mehr als die Hälfte des deutschen Verbrauchs - sank bis Ende Juni auf noch 26 Prozent, wie es im «Dritten Fortschrittsbericht Energiesicherheit» heißt. Das liege aber auch an den gedrosselten Lieferungen von Gazprom. Das Wirtschaftsministerium rechnet damit, dass sich bis zum Jahresende etwa 30 Prozent erreichen lassen. Solange die Rohstoffgroßmacht dominantes Ursprungsland ist, sind die Verbraucher verwundbar. Auch in der gashungrigen Chemie- und Pharmaindustrie und in vielen anderen Branchen sind die Sorgen groß.

Was sind die Lieferalternativen?

Weitere wichtige Quellen sind für die Bundesrepublik Norwegen mit gut 20 Prozent und die Niederlande mit etwa 11 Prozent. Tempo kommt jetzt auch ins Thema LNG. Das unter hohem Druck tiefgekühlte, per Schiff transportierte verflüssigte Erdgas bezieht Deutschland bisher vor allem aus den USA. Erste Import-Terminals sollen nun möglichst schon rund um den Jahreswechsel in Wilhelmshaven und Brunsbüttel starten, weitere Anlandestellen folgen. Ob Verträge mit Großexporteur Katar zustande kommen, war zuletzt noch ungewiss. Die Förderung eigenen deutschen Gases kann bestenfalls 5 Prozent des heimischen Verbrauchs decken. Es gibt aber Pläne, in der Nordsee ein neues Feld anzuzapfen.

Was können Verbraucher selbst noch tun?

Ramona Pop vom Bundesverband der Verbraucherzentralen berichtet, dass «zunehmend Menschen mit Sorgen, Existenznöten und Verzweiflung» zur Beratung kämen. «Schockartige Preissteigerungen» müssten verhindert werden, echte Entlastungen seien nötig, sagte sie in Richtung Bund. Verbraucherinnen und Verbraucher sollten nun «Energie sparen, sparen, sparen und - falls finanziell möglich - vorsichtshalber Rücklagen für Nachzahlungen bilden». Zudem könne etwa der Kauf von Spar-Duschköpfen helfen. Neben Privatleuten sieht Pop die Industrie, den Handel und die öffentliche Hand in der Pflicht, weniger Energie zu verbrauchen.