Berlin. Schimpfen, spucken, schlagen: Angriffe auf Mitarbeiter der Deutschen Bahn nehmen zu, die Hemmschwelle sinkt. Nun reagiert der Konzern.

Es ist gerade einmal vier Monate her, da geriet Eyyup Kurkan am Frankfurter Hauptbahnhof in die bisher gefährlichste Situation seines Berufslebens. Der 40-jährige gehört zum Sicherheitspersonal der Deutschen Bahn. Ein Besucher des Bahnhofs rauchte in einer Rauchverbotszone. „Wir haben ihn freundlich darauf angesprochen“, erinnert sich Kurkan. Dann tickte der Angesprochene aus.

„Ohne mit uns zu sprechen, hat er uns angespuckt, beleidigt und mir einen Faustschlag an die Schläfe versetzt“, sagt Kurkan. Schließlich nahm der Täter einem Gehbehinderten die Krücken weg und ging damit auf die Sicherheitsleute und die herbeigeeilte Bundespolizei los. Die Polizisten mussten sogar die Schusswaffen zücken, um dem Angriff zu beenden. Der Vorfall ist zwar außergewöhnlich aggressiv, aber kein Einzelfall. Im Gegenteil.

Immer häufiger gerät das Bahnpersonal in Triebwägen, den Zügen oder eben am Bahnhof in bedrohliche Situationen. Die psychische Belastung daraus steigt bei den Beschäftigten an. „Wir sind ja auch nur Menschen“, sagt Kurkan, der die Betreuung durch Psychologen in solchen Fällen lobt. „Wir bekommen starke Rückendeckung“, betont er. Das ist auch nötig, wie eine bisher noch unveröffentlichte Auswertung des Tatgeschehens im vergangenen Jahr belegt.

Mehr als 3000 Übergriffe auf Bahn-Mitarbeiter in 2022

Laut dem Papier, das dieser Redaktion vorliegt, registrierte das Unternehmen 3138 Übergriffe auf Bahnmitarbeiter. Gegenüber dem Vorjahr stieg die Zahl der Taten um 20 Prozent. Zwar handelte es sich beim größten Teil der Vorfälle um leichte Körperverletzungen. Da wird das Personal zum Beispiel angerempelt, geschlagen oder angespuckt. Doch 189 Taten waren schwere Körperverletzungen.

„Am stärksten betroffen sind die Kundenbetreuerinnen und Kundenbetreuer im Regionalverkehr“, berichtet Hans-Hilmar Rischke, Chef der Konzernsicherheit bei der Deutschen Bahn. Jeder zweite Angriff ereignet sich in einem Regionalzug oder Bus.

Ein Drittel der Übergriffe im vergangenen Jahr wurde begangen, als Bahnbeschäftigte Corona-Schutzmaßnahmen durchsetzen wollten. Auch das 9-Euro-Ticket steigerte das Konfliktpotenzial durch den Stress in übervollen Zügen und auf den Bahnsteigen.

Ein weiterer Grund ist der wieder wachsende Reiseverkehr von Fußball-Fans. Hier gibt es von einzelnen Gruppen gezielte Aktionen, bei denen zunächst die Kameras in den Regionalzügen abgeklemmt oder mit Farbe untauglich gemacht werden. Anschließend zertrümmern die Hooligans den Zug und verschwinden wieder.

Die Hemmschwelle sinkt, die Gewalt steigt

Für einen Übergriff reicht oft schon die Frage nach dem Fahrschein, weiß Ralf Damde, Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats der DB Regio. Das Personal steht dann häufig alleine da. Denn es schauen viele weg, wenn sich eine Situation zuspitzt. „Das A und O ist Zivilcourage“, sagt Rischke, „Mitreisende dürfen nicht wegsehen, sondern müssen hinschauen, etwas sagen oder wenigstens einen Notruf absetzen“.

Ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der Deutschen Bahn steht am Bahnhof. Zugbegleiter und andere Mitarbeiter der Deutschen Bahn sind im vergangenen Jahr mehr als 3000 Mal angegriffen worden.
Ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der Deutschen Bahn steht am Bahnhof. Zugbegleiter und andere Mitarbeiter der Deutschen Bahn sind im vergangenen Jahr mehr als 3000 Mal angegriffen worden. © dpa | Henning Kaiser

Immerhin schreckt die Videoüberwachung manch wütenden Fahrgast ab. In den Regionalzügen sind rund 50.000 Kameras installiert. Weitere 9000 überwachen die Bahnhöfe. Doch in vielen Fällen wirkt die Abschreckung nicht, etwa bei Betrunkenen oder psychisch beeinträchtigten Tätern.

Auch wenn die Zahl der Übergriffe angesichts von 21 Millionen Reisenden am Tag gering erscheint, nimmt der Konzern das Thema ernst. 180 Millionen Euro gibt das Unternehmen jährlich für den Schutz von Beschäftigten und Kunden aus. Allein 4300 Sicherheitskräfte fahren in den Zügen mit oder schauen an den Stationen nach dem rechten. Dazu kommen noch 5500 Bundespolizisten.

Die Sicherheitskräfte sind gegen Angriffe gut gerüstet. Sie werden für die Deeskalation von Konflikten geschult, patrouillieren zu zweit und haben im Notfall auch ein Abwehrspray in der Tasche, mit dem Angreifer auf Distanz gebracht werden können. Zudem tragen sie Bodycams, die manchen Übergriff verhindern. Aber: Diese Kameras laufen nicht ständig; der Betrieb muss in einer kritischen Situation angekündigt werden. Das schreckt ab. Die Daten aus den stationären wie den beweglichen Kameras darf übrigens nur die Bundespolizei auswerten.

Psychische Folgen nach Angriff gravierend

Kommt es trotzdem zu einem Angriff, sind die psychischen Folgen für die Beschäftigten meist gravierender als die körperliche Belastung. „Traumatisierungen beschäftigen uns im Nachgang am meisten“, sagt Rischke.

Den Betroffenen würden dann eine psychologische Betreuung und, wenn es nötig ist, auch Reha-Maßnahmen angeboten. Inzwischen hat die Bahn auch ein rund um die Uhr erreichbares „Bedrohungsmanagement“ eingeführt. Mit den Leuten dort können Beschäftigte reden, wenn während der Arbeit bedrohliche Situation entstanden sind.

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Betriebsrat Damde erkennt die Bemühungen des Unternehmens durchaus an. Doch geht ihm der Schutz der Beschäftigten an einigen Punkten nicht weit genug. Besonders die Gefährdung des Personals in den Regionalzügen sieht Damde kritisch. Denn die Betreuer sind allein in den Waggons unterwegs. „Wir wissen, wo die Schwerpunkte von Übergriffen liegen“, sagt er.

Auf diesen Verbindungen könnte die Doppelbesetzung der Kundenbetreuer oder die Mitfahrt von Sicherheitsleuten oder der Bundespolizei helfen. „Da fehlt Personal“, kritisiert Damde. Auch würden zu wenige Mitarbeiter in der Deeskalation von Konflikten geschult. Von den 30.000 Beschäftigten bei Bussen und Regionalbahnen hätten im vergangenen Jahr gerade einmal 2347 eine Schulung durchlaufen.