Washington. . Der Medienriese Netflix verliert erstmals seit zehn Jahren Kunden. Die Hintergründe – und Maßnahmen des Unternehmens.

Mit aufgerundeten 222 Millionen Abonnenten weltweit ist Netflix nach wie vor die Nr. 1 der Streaming-Dienste, die revolutioniert haben, wie die Welt fernsieht und Heimkino schaut.

Reed Hastings, einer der Gründer des 1997 als DVD-Versandservice gestarteten Unternehmens, weiß als ehemaliger Mathelehrer aber um die Flüchtigkeit von Zahlen.

Darum hat der Milliardär im Zuge der jüngsten Geschäftsbilanz mit einem Ur-Gesetz gebrochen. Netflix als rein anzeigenfreies, prinzipiell ungestörtes und binge-trächtiges Film-Vergnügen – diese Zeiten könnten bald vorbei sein, deutete Hastings an, und um ein verbilligtes, Abo-Angebot mit Werbe-Clips ergänzt werden.

Netflix: Warum jetzt doch Werbung kommen könnte

Der Grund ist simpel: Zum ersten Mal seit zehn Jahren geht es für das Unternehmen aus dem kalifornischen Los Gatos nicht mehr unaufhörlich steil nach oben.

In den ersten drei Monaten dieses Jahres ging die Zahl der kostenpflichtigen Nutzer um rund 200.000 gegenüber Ende Dezember zurück. Erwartet wurde zunächst ein Plus von 2,5 Millionen.

Gegenüber dem ersten Quartal 2021 sank der Gewinn des Unternehmens trotz höheren Umsatzes um knapp sechs Prozent auf 1,6 Milliarden Dollar. Auf dem US-Markt wurde der Preis für das Standard-Abo erst im Januar von 13,99 Dollar auf 15,49 Dollar erhöht.

Weil Hastings und sein Co-Chef Ted Sarandos bis Ende Juni aber einen Aderlass von weiteren zwei Millionen Kunden kalkulieren, stürzte die Netflix-Aktie an der Wall Street zwischenzeitlich um über 25 Prozent ab. Seit Januar liegt das Minus sogar bei 40 Prozent.

Was einem veritablen Film-Riss gleichkommt, galt Netflix in der Frühphase der Corona-Pandemie, in der Kinos starben und Hollywoods Traumfabriken zitterten, als Gewinner, dem Lockdown-genervte Kunden in Scharen zuliefen.

Ukraine-Krieg: Grund für Netflix-Pleite

Bei der Ursachendeutung für den Einschnitt machten Hastings Leute vor Journalisten in einer vorher aufgenommenen Präsentation neben der grassierenden Inflation zunächst den Krieg in der Ukraine aus. Russische Abo-Konten, rund 700.000 an der Zahl, wurden wegen Putins Angriff auf den Nachbarn Ende Februar gekündigt.

Als weitere Gründe nannte Netflix das Phänomen "Account Sharing". Heißt: Geschätzte 100 Millionen Haushalte weltweit schauen sich Serien und Filme wie "Bridgerton" oder "Inventing Anna" für lau an, weil ein ordnungsgemäßer Abonnent ihnen das Passwort verraten hat. Mit Zusatzabos (Preis noch unbekannt) erwägt Netflix der "Schwarzseherei" künftig Einhalt zu gebieten; in drei Ländern Latein-Amerikas werden entsprechenden Modelle gerade getestet.

Dritte Säule der Netflix-Krisen-PR ist die üppige Konkurrenz von Disney+ (cirka 130 Mio. Kunden) über HBO Max bis zu Hulu und Apple TV, die auf dem US-Markt mit attraktiven Angeboten wie "Severance","The Dropout" oder "The Gilded Age" Kasse macht.

Insider der Streaming-Szene ergänzen das Argument mit dem Verweis, dass Netflix nicht mehr durchweg die Das-musst-du-unbedingt-gesehen-haben-Produkte im Köcher hat. Zwar stünden mit der neuen Staffel von "Stranger Things", dem heiß erwarteten Finale von "Ozark" sowie Filmen wie "The Gray Man" mit Ryan Gosling Premium-Produkte in der Warteschleife, heißt es in US-Medien, dahinter komme allerdings nicht mehr wirklich viel. Disney+ & Co., heißt es unter Netflixianern, seien eben auch "sehr gut darin, ihren Kunden zu gefallen".

Netflix gegen Störfaktoren: Videospiele sollen helfen

Bei Rezepten für die Zukunft schaut Netflix fast zwangsläufig über die Grenzen des 330 Millionen Einwohner-Marktes der USA hinaus. Drei der sechs populärsten Shows - "Squid Game" und "All of Us Are Dead" (Südkorea) sowie "Money Heist" (Spanien) - kommen aus dem Ausland, wo Netflix mittlerweile in über 50 Ländern Film- und Fernsehproduktionen machen lässt.

Wachstum sei hier möglich aber kein Garant gegen den größten Störfaktor: Alle Streaminganbieter ringen um die Aufmerksamkeit eines Publikums, dem inzwischen schwer zu überschauende Fülle von digitalen Zerstreuungs-Alternativen von YouTube bis TikTok zur Verfügung stehe.

Damit Kunden zwischen Film und Serie mehr Zeit auf dem Portal verbringen, hat Netflix unlängst drei Videospiel-Entwickler gekauft. Die auf Interaktivität zielende Branche gilt als der große Konkurrent der Streaming-Dienste, die an Wachstumsgrenzen stoßen. Dagegen hat allein das Onlinespiel Fortnite (Besitzer Epic Games) inzwischen 200 Millionen Abonnenten.