Hamburg. Tobias Schulz sitzt in seinem Büro in der Firmenzentrale in Lübeck – beim Videochat mit dem Abendblatt vermittelt der Geschäftsführer der Bäckerei Junge aber einen anderen Eindruck. Es sieht aus, als sitze der 52-Jährige in einer Filiale. Das Foto wählte er als virtuellen Hintergrund aus. Schließlich hoffe man, sagt der auf der Uhlenhorst lebende Hamburger, dass bald die Café-Bereiche wieder gefüllt werden.
Hamburger Abendblatt: Herr Schulz, wie ist Ihr Unternehmen durch das Corona-Jahr 2020 gekommen?
Tobias Schulz: Bis zum März machten wir gute bis sehr gute Umsätze. Dann brachen sie durch den Lockdown um bis zu 50 Prozent ein. So eine Situation hatten wir im Unternehmen wohl noch nie. Da sind wir kurz in Schockstarre verfallen. Aber: Wir hatten Gott sei Dank einen guten Sommer, viele Touristen sind an die Ostsee gefahren. Wir haben von unserer Küstenaffinität profitiert. Im Kalenderjahr 2020 setzten wir 160 Millionen Euro um. Das waren zehn Millionen weniger als im Vorjahr.
Das Umsatzminus hält sich ja in Grenzen...
Schulz: Wir sehen das in der Tat mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Man muss aber klar sagen: Wir profitieren von dem starken Jahresauftakt 2020 und dem guten Sommer. Zudem haben wir mehr Filialen als zuvor, das prozentuale Minus pro Geschäft ist also höher.
Wie sieht es derzeit aus?
Schulz: In diesem Jahr ging der Umsatz bisher um knapp 30 Prozent zurück. 20 unserer 203 Geschäfte sind noch immer geschlossen. Diese liegen in Einkaufszentren, am Strand, in der zweiten Reihe oder in Einkaufsstraßen von kleinen Städten, in denen sich nur wenige Einwohner oder Touristen aufhalten.
Was heißt das für die Beschäftigten?
Schulz: Momentan sind zwischen 30 und 40 Prozent der Mitarbeiter in Kurzarbeit, weniger in der Produktion, mehr in der Verwaltung. Im Sommer halfen viele Mitarbeiter aus Hamburg an der Küste aus. Wir hatten teilweise gar keine Kurzarbeit, das schwankte während der Krise stark. Das Kurzarbeitergeld stocken wir übrigens vom ersten Tag auf 80 Prozent auf, auch Weihnachtsgeld zahlen wir. Entlassungen gab es bei uns nicht.
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Wie viel weitere Staatshilfen bekamen Sie?
Schulz: Es sind sehr vollmundige Versprechungen gemacht worden. Aber die Bedingungen dafür lesen sich wie ein Beipackzettel für Medikamente. Kaum einer versteht noch, ob man die Kriterien für die Hilfen erfüllt. Wir haben bisher 2,8 Millionen Euro beantragt, aber nur einmal 30.000 Euro bekommen. Wir greifen auf unsere Rücklagen zurück. Für unser Geschäftsjahr, das von April bis März geht, hoffen wir, eine schwarze Null zu schreiben. Das gelang durch eine Senkung der Kosten und geringere Investitionen – was aber nicht unserem Naturell entspricht, weil wir weiter wachsen wollen.
Wollen Sie in Hamburg Filialen eröffnen?
Schulz: Die Verkaufsregion Hamburg reicht für uns von Ahrensburg über Elmshorn, Buxtehude bis Lüneburg und Glinde. Der Großraum Hamburg ist für uns weiterhin ein Wachstumsmarkt. Wir haben hier derzeit 73 Geschäfte und beschäftigen 1442 Mitarbeiter. Die Metropolen werden weiter wachsen, sowohl im Kern als in den Randgebieten. In Vorstädten und Stadtkiezen sehen wir daher noch Chancen für uns. Die Menschen halten sich mehr in ihrem Wohnumfeld auf und wollen sich dort wohlfühlen. Deswegen passen wir unser Angebot stets auf die Wünsche der Menschen vor Ort an. Ein paar neue Standorte in Hamburg haben wir konkret im Visier. Solange die Verträge nicht unterschrieben sind, halte ich mich allerdings bedeckt. Wir schauen uns den Markt aber genau an, weil er sich durch Corona grundlegend verändert.
Heißt: Sie könnten auch Filialen schließen?
Schulz: Ja, das ist möglich. Wir werden uns alle Filialen genau anschauen. In der Pandemie haben sich mit dem Auto zu erreichende Läden als krisenfest erwiesen. An Bahnhöfen wegen des gestiegenen Homeoffices und in Krankenhäusern wegen Besuchseinschränkungen ist das Geschäft hingegen eingebrochen. Die Einkaufszentren mit ihrem uniformen Angebot an gleichen Läden tun sich schon länger schwer und haben in der Corona-Krise stark gelitten. Sie werden sich auch zukünftig sehr, sehr schwer tun. Ebenso wie Klein- und Mittelzentren. Es gibt gewisse Vorstädte, die gar nicht mehr funktionieren. Die Fußgängerzonen sind tot – das ist grauenvoll. Deswegen müssen wir genau hingucken. Wir investieren rund 600.000 Euro in eine neue Filiale. In der Regel brauchen wir zehn Jahre, um das Investment zurückzubekommen.
Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:
- Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
- Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
- Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
- Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
- Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).
Im Oktober 2020 übernahmen Sie die Stadtbäckerei am Gänsemarkt. Wie läuft es dort?
Schulz: Coronabedingt nicht so gut wie erhofft. Der traditionsreiche Standort hat von drei Elementen gelebt. Der Verkaufsbereich läuft weiterhin sehr gut. Aber Catering und Verpflegung der umliegenden Büros sind weggefallen. Und der Snackbereich leidet derzeit – wie an allen anderen Standorten – massiv. Vor Corona machte er 55 Prozent unseres Umsatzes aus. Nun sind es etwa 20 Prozent. Das tut angesichts des großen Flächenverbrauchs von zwei Drittel der Filiale und der hohen Miete extrem weh.
In einigen Straßen liegen zwei Junge-Filialen nur wenige Meter voneinander entfernt. Wie rechnet sich das?
Schulz: Indem wir unterschiedliche Kundenbedürfnisse ansprechen. Beispielsweise haben wir am Mühlenkamp ein älteres Geschäft, das an der Bushaltestelle liegt. Entsprechend viele Kunden kommen herein, kaufen schnell etwas und gehen wieder. Die Tür geht auf, die Tür geht zu. Das drückt auf die Gemütlichkeit im Cafébereich – der ist der Schwerpunkt unserer zweiten Filiale 150 Meter weiter. Dort sitzen die Gäste für zwei, drei Stunden und arbeiten im Homeoffice.
In Berlin und Reinfeld betreiben Sie Drive-in-Filialen. Ist das in Hamburg denkbar?
Schulz: Im Großraum ja, in Hamburg selbst nein. Dafür sind die Grundstückspreise zu hoch. Das ist nicht machbar. Wir werden aber in Itzehoe bald ein weiteres Drive-In-Geschäft aufmachen.
Kommen wir zu ihren Produkten: Werden sie die Preise erhöhen?
Schulz: Der steigende Mindestlohn, höhere Energiekosten und Hygienemaßnahmen machen das nötig. Im Schnitt werden wir die Preise moderat um zwei bis zweieinhalb Prozent anheben. Wir wissen aber auch, dass viele Kunden in der Corona-Krise weniger verdient haben. Also werden wir intern unsere Prozesse verbessern und nicht alles eins zu eins an die Kunden durchreichen. Zwar konnten wir den Durchschnittsbon erhöhen, aber wir haben in der Pandemie viele Gäste verloren. Und die wollen wir zurückgewinnen.
Können Sie sich vorstellen, wie einige Konkurrenten Pizza zu verkaufen?
Schulz: Ich persönlich glaube nicht an Pizza. Die Grundlage, der Teig, ist zwar unser Metier, aber wir sind keine Pizzeria. Die Konkurrenz mit zahlreichen Lieferdiensten ist groß. Eher kommt ein überbackenes Ciabatta in Frage. Wir wollen im Snackbereich belegte Brote und Brötchen sowie Sandwiches wieder stärker in den Fokus rücken, besonders in der Mittags- und Abendzeit. Wir haben gerade ein Dinkel-Vollkorn-Brötchen eingeführt. Das ist sehr gut angelaufen. Dinkel wird in den vergangenen Jahren immer mehr gefragt, Vollkorn ist von jeher beliebt. Das zahlt auch auf die Karte gesunde Ernährung ein.
Sie verkaufen aber auch Produkte, die nichts mit Teig zu tun haben.
Schulz: Wir haben unsere eigenen Rezepturen für Eier-, Thunfisch- und Fleischsalat. In der Corona-Krise wollten die Kunden das gern für Zuhause haben. Also bieten wir das jetzt in 150-Gramm-Portionen an. Da sind wir ganz zufrieden mit. Zudem gibt es unter unserer Marke Tee und seit einem Jahr Kaffee. Er wird von Breiger in der Speicherstadt nach unseren Wünschen geröstet, in den Filialen ausgeschenkt und als Bohnen- und Filterkaffee abgepackt an unsere Kunden verkauft. Generell in den Einzelhandel wollen wir damit aber nicht. Da wären wir einer von Hunderten, das ist nicht unser Geschäftsmodell. Auch wenn wir mit dem einen oder anderen Edeka-Händler vielleicht mal sprechen werden...
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Gemeinsam mit dem Straßenmagazin Hinz&Kunzt betreiben Sie seit 2016 das Geschäft Brotretter in Rothenburgsort. Dort arbeiten ehemalige Wohnungslose. Wollen Sie das Projekt ausweiten?
Schulz: In den fünf Jahren retteten wir 375.000 Brote vom Vortag vor dem Wegwerfen, indem wir sie für weniger Geld dort verkauften. Und: Wir brachten 13 Menschen in ein reguläres Arbeitsverhältnis. Zwei sind bei uns beschäftigt, einer ist bis zum stellvertretenden Geschäftsleiter aufgestiegen. Das finde ich phänomenal. Es ist ein soziales Projekt – und damit auch defizitär. Als sozial engagiertes Unternehmen können und wollen wir uns das leisten. Wir haben einen Brotretter-Laden in Hamburg und einen in Lübeck (zusammen mit der Diakonie). Wir würden gern noch einen in Rostock aufmachen. Und wenn wir in Berlin Fuß gefasst haben auch dort.
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