Wirtschaft

Billbrook – Hamburgs vergessenes Industriegebiet

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Martin Kopp
Kämpfen täglich mit Verkehrs- und anderen Problemen: Bernhard Jurasch (l.) und Robert Meyer vom Vorstand des Billbrookkreises

Kämpfen täglich mit Verkehrs- und anderen Problemen: Bernhard Jurasch (l.) und Robert Meyer vom Vorstand des Billbrookkreises

Foto: Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Unternehmen in dem Areal fühlen sich von der Stadt im Stich gelassen und fordern 400 Millionen Euro für Verbesserungen.

Hamburg. Bernhard Jurasch steht mitten auf der Liebigstraße im Industriegebiet Billbrook und schüttelt den Kopf. Vor ihm steht ein staubbedeckter, rostzerfressener Lkw-Anhänger am Straßenrand. Ein ausländisches Nummernschild hängt halb abgerissen daran. „Der steht hier seit zwei Jahren“, sagt Jurasch. Niemand weiß, wem er gehört, und niemand kümmert sich darum.“ Jurasch dreht sich um. Die Straße ist mit Schlaglöchern übersät.

Ein rostiges verblichenes Schild weist darauf hin. Nur mit Mühe ist ein Fußweg zu erkennen, der eher einer kleinen Müllhalde gleicht. „Das ist ein tolles Arbeitsumfeld, nicht wahr?“, sagt Robert Meyer, der neben Jurasch steht, und aus ihm spricht die pure Ironie. Jurasch und Meyer bilden den Vorstand des Billbrookkreises, und sie drehen wieder einmal eine Runde in ihrem Revier.

Im Billbrookkreis, zu dem neben Billbrook auch das benachbarte Rothenburgsort gehört, haben sich mehrere Hundert Unternehmer zusammengeschlossen, die dort ihren Sitz haben. Der Verein steht für einen Stadtteil, in dem 24.000 Beschäftigte Arbeit haben. 750 Hektar groß ist das Industriegebiet – mehr als doppelt so groß wie der Central Park in New York. „Wir vertreten nach dem Hafen das zweitgrößte Industriegebiet Deutschlands“, sagt Meyer und fügt hinzu: „Aber ich weiß nicht, ob das im Rathaus angekommen ist.“

Hier kann man fast alles kaufen, aber nur wenig auf ordentliche Rechnung

Vergessen und abgehängt vom Rest der Stadt fühle sich Billbrook, ergänzt Jurasch. Nur wenige Meter weiter steht der nächste abgemeldete Wagen herum. „Wir haben allein in der Billstraße einmal an einem Tag 60 abgemeldete Fahrzeuge mit rotem Aufkleber gezählt – wie ein großer illegaler Autofriedhof.“ Darauf angesprochen hieß es aus der Verwaltung: „Wenn wir die Fahrzeuge abschleppen, stehen am nächsten Tag neue da.“ Überhaupt die Billstraße. Hier hat sich neben der Industrie ein ganz anderer Gewerbezweig breitgemacht.

Dicht an dicht stehen hier Verkäufer. Die Fußwege sind zugestellt mit Kühlschränken, Polstergarnituren, Koffern und Spielzeug. Auf einem kleinen Grünstreifen steht ein halboffener Container, aus dem Tausende alter abgetragener Schuhe quellen. Mitten in dem Berg steht ein Mann, der versucht ein passendes Paar zu finden. Hier kann man fast alles kaufen, aber nur wenig auf ordentliche Rechnung.

Die Händler verfolgen jeden, der vorbeikommt, mit ihren Blicken. Mit gemischten Gefühlen gehen Jurasch und Meyer die Billstraße entlang. „Wir müssen ein bisschen aufpassen“, sagen sie. Wer nichts kaufen wolle, sei nicht so gerne gesehen. Dabei ist das Gebiet überhaupt nicht für den Einzelhandel ausgewiesen“, sagt Meyer. „Wir haben die Stadt darauf angesprochen. Dort hieß es, man würde die illegalen Zustände dulden, weil die hier ansässigen Betreiber sonst der Öffentlichkeit auf der Tasche liegen würden.“

„Wir fühlen uns verschaukelt und vorgeführt."

Dabei gab es einst ganz andere Pläne. 2014 hatte der damalige Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) ein klares Bekenntnis zu Billbrook abgelegt und eine wahre Aufbruchstimmung initiiert. „Billbrook, da bin ich mir sicher, wird ein Magnet für die Industrieansiedlung. Hier werden die Signale für Wachstum und Beschäftigung gesetzt“, sagte er damals. Es wurden Gutachten geschrieben, Verbände befragt, Bürgerforen abgehalten. Heraus kam ein 550 Seiten starkes Handlungskonzept. Dieses wurde dann auf eine 90-seitige Senatsdrucksache unter Einbeziehung aller Behörden komprimiert – und verschwand in irgendeiner Schublade der Wirtschaftsbehörde.

„Nichts ist passiert“, sagt Jurasch. „Wir fühlen uns verschaukelt und vorgeführt.“ Einmal noch hatte der damalige Innensenator Michael Neumann (SPD) versucht, eine Reanimation des Handlungskonzepts herbeizuführen. Er sagte: „Wenn die Olympia-Bewerbung scheitert, dann ist Billbrook dran. Dann haben wir Geld.“ Aber auch daraus sei nichts geworden, beklagt Jurasch.

Dabei drängt die Zeit, weil sich inzwischen am Standort echte Wettbewerbsnachteile zeigen: „Die Digitalisierung ist hier noch nicht angekommen“, sagt Jurasch. „Die Kanäle verschlicken, weil hier seit Jahrzehnten schon nicht mehr gebaggert wurde.“ Dabei würden mehrere Unternehmer ihren Rohstoffnachschub per Schuten erhalten, wie die auf Schmierstoffe spezialisierte Raffinerie Fuhse. Wenn sich das nicht bald ändert, muss Fuhse seine Transporte mit Lastwagen regeln. „50 Lkw-Fahrten ersetzen eine Schutenfahrt. Dabei will der Senat eigentlich mehr Transporte von der Straße aufs Wasser verlegen“, sagt Meyer mit Unverständnis.

„Verkehrsstau ist ein ernsthaftes Problem“

Die Verkehrsregelung sei insgesamt beklagenswert, kritisiert der Billbrookkreis. „Erst wurde die Berceliusstraße ausgebaut, damit die Laster einfacher auf die Autobahn kommen. Dann wurde das Flüchtlingsheim eröffnet. Wir haben das damals unterstützt, mit der Maßgabe, dass es für unsere Betriebe keine Einschränkungen geben dürfte“, sagt Jurasch. Dann wurde bei einem tragischen Unfall in der „Berze“ ein Kind totgefahren. Danach wurde die Durchfahrt gesperrt. „Jetzt beklagen sich die Transportfirmen bei uns, dass die Lkw alle über den schmalen kurvigen Billbrookdeich fahren müssen.“

Verkehrsstau sei ein ernsthaftes Problem, sagt Andreas Kähler, Inhaber von Sahne-Kähler, einem Großlieferanten von Lebensmitteln, insbesondere Molkereiprodukten, der seinen Sitz am oberen Ende der Billstraße hat. „Aber am meisten ärgert uns die Masse der wild abgestellten Autos vor der Tür. Die stehen monatelang herum, ohne bewegt zu werden. Meine Mitarbeiter beklagen sich schon, dass sie keine Parkplätze mehr finden.“ Kähler hat sich bei den Behörden beschwert, ist aber auch zurückgewiesen worden. „Ich habe mir schon mal überlegt, ob ich mir an einem Sonntag einfach einen Gabelstapler schnappe und die Fahrzeuge zu Demonstrationszwecken auf der Straße abstelle, damit hier endlich was passiert.“

Um die Probleme zu lösen, hat der Billbrookkreis eine klare Forderung. „Wir fordern, dass sich der Senat endlich um den Stadtteil kümmert. Und wir verlangen dazu ein Programm von 400 Millionen Euro“, sagt Jurasch. Die Summe soll natürlich nicht mit einem Mal, sondern über die Jahre gestreckt in die Verbesserung der Infrastruktur und in die Aufwertung des Stadtteils investiert werden. Damit sich endlich etwas ändert.

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