Berlin. Start-up-Gründer Ziv Aviram verkaufte sein erstes Unternehmen für 15,3 Milliarden Dollar. Seine neueste Erfindung hilft Sehbehinderten.

22 Gramm können den Unterschied ausmachen zwischen einem fast blinden Menschen und einem Sehenden. So viel wiegt das Gerät, das die Differenz zwischen gesund und sehbehindert ausgleichen kann.

Ein kleiner schwarzer Quader, etwa zehn Zentimeter lang und so groß wie ein USB-Stick, er wird an den rechten Bügel jeder beliebigen Brille geklickt. Das Gerät mit dem Namen OrCam MyEye besteht aus einer Kamera und einem Minilautsprecher, der in Nähe des rechten Ohrs platziert ist.

Die Kamera erfasst den natürlichen Sehraum des Trägers. Zeigt der Nutzer mit dem Finger auf einen Text, liest OrCam ihn vor, kann unterscheiden zwischen Überschriften, erkennt Barcodes an Produkten, sagt, ob in der Packung Cornflakes sind, und erkennt sogar Gesichter.

Sie sagt dem sehbeeinträchtigten Menschen, ob gerade sein Boss, seine Tante oder eine bisher unbekannte junge Frau vor ihm steht.

Verantwortlich ist Israels erfolgreichster Start-up-Gründer

Ziv Aviram, 59 Jahre alt, braucht selbst noch keine Brille. Der Israeli und Unternehmer, hat die Sehhilfe auf den Markt gebracht. Dabei ist er nicht irgendein Unternehmer, er ist Israels erfolgreichster Start-up-Gründer.

Der Verkauf seiner ersten Firma Mobileye für 15,3 Milliarden Dollar an den Hightech-Riesen Intel im März 2017 hat Geschichte geschrieben. Mobileye produziert Fahrerassistenzsysteme, Kameras, die die Umgebung des Autos wahrnehmen, fast jeder Autobauer greift auf die Technik zurück, lediglich Tesla und Daimler sind nicht dabei.

Für die Entwicklung von selbstfahrenden Autos ist Mobileye Stand der Technik. Der Verkauf war die bis dahin größte Übernahme in der israelischen Hightech-Indus­trie. Die Sehhilfe MyEye ist nun Avirams zweites großes Ding.

Beide Firmen hat Ziv Aviram zusammen mit dem israelischen Wissenschaftler Amnon Shashua gegründet. Shashua ist Erfinder, Computerwissenschaftler, der technische, kreative Vorstand, und Aviram der Organisator, der Mann für die Finanzen, der Firmenchef.

OrCam schon im Heilmittel-Katalog der gesetzlichen Krankenkassen

Ziv Aviram hat gerade Termine in Deutschland. Beim Treffen in Berlin berichtet er stolz, dass die OrCam seit Anfang dieses Jahres in den Heilmittel-Katalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen worden ist. Das heißt, dass bei entsprechender Diagnose die Krankenkasse die Kosten für die Sehhilfe an der Brille übernimmt.

Ein Riesenerfolg auf dem deutschen Markt. Ein Gerät kostet etwa 4500 Euro. Wie viele Menschen in Deutschland sehbehindert oder gar blind sind, darüber gibt es keine genauen Zahlen – aber Schätzungen. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) circa 1,2 Millionen Menschen, weltweit sind laut WHO 217 Millionen betroffen. Tendenz bei einer alternden Gesellschaft steigend.

Tante seines Geschäftspartners war Inspiration für Entwicklung

Die OrCam stößt also auf einen Riesenmarkt. Wer hatte die Idee? „Das Genie hinter dem Produkt ist mein Partner Professor Amnon Shashua“, erklärt Ziv Aviram. Als Shashua vor 30 Jahren seinen Doktor gemacht hat, sei seine Tante, die eine Sehbehinderung hat, zu ihm gekommen und sagte, „so, jetzt kannst du meine Augen ja heilen“, woraufhin er geantwortet habe: „So ein Doktor bin ich nicht, ich bin Doktor der Computerwissenschaft.“

2010 sei Shashua dann zu Aviram gegangen und sagte: „Jetzt ist die Technologie weit genug, ich denke, wir können Sehbehinderten helfen.“ Damals war gerade die Hochzeit der 1999 gemeinsam gegründeten Firma Mobileye, doch beide gründeten erneut.

Künstliche Intelligenz arbeitet zwischen Kamera und Lautsprecher

Aviram erinnert sich: „Es war damals der richtige Zeitpunkt. Nun haben wir acht Jahre lang entwickelt und entwickeln immer noch.“ Deshalb soll in ein paar Monaten auch eine neue Software für die OrCam auf den Markt kommen, dann soll die Sehhilfe auch per Sprache gesteuert werden können. So ähnlich wie die Sprachfunktion Siri auf Apples iPhone.

Bisher zeigt der Nutzer der Sehhilfe mit dem Finger auf Gedrucktes, die Kamera kann es von jeder Oberfläche lesen. „Das Gerät interpretiert die Welt“, sagt Aviram. Auf die Frage, wie das genau funktioniert, antwortet er: „Das sind alles Algorithmen.“ Er lacht, weil er weiß, wie abschreckend das Wort für Nicht-Wissenschaftler wirken muss.

„Was zwischen Kamera und Lautsprecher passiert, ist künstliche Intelligenz.“ Ganz unbescheiden fügt er noch hinzu, dass die OrCam das „schlaueste tragbare Gerät der Welt ist“.

Privatheit der Nutzer sei geschützt

Die Kommunikation, die sogenannte Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, verlaufe sehr einfach. Auch Menschen, die gar nicht sehbehindert seien, sondern nicht lesen oder nur schlecht lesen könnten oder an der Sprachstörung Aphasie litten, würden inzwischen die Sehhilfe nutzen.

Außerdem sei die Privatheit des Nutzers absolut geschützt, weil das Gerät offline, in Realzeit, aber ohne Internet funktioniere. „Es kann Rechnungen lesen, Kreditkarten, Farben erkennen, Millionen von Produkten, Zugnummern, Busnummern und wir fügen mehr und mehr dazu.“

Wie sieht es mit Handschrift aus? Wieder schmunzelt Aviram und antwortet mit dem Blick auf die Handschrift seines Gegenübers: „Leider nein. Denn wenn du zu viel erreichen willst, dann verzettelst du dich.“ Eine seiner Handlungsmaximen.

Israel ist nach den USA die erfolgreichste Start-up-Nation. Welche Erklärung hat Aviram dafür? „Es gibt drei Punkte in unserer Kultur, die helfen, ein Start-up zu gründen. Erstens haben wir keine Angst vor Autoritäten. Es gilt als positiv, wenn der Mitarbeiter seinem Chef widerspricht. Zweitens nehmen wir Scheitern nicht so ernst, wir verstehen es eher als Lernprozess.“

Ausbildung in der Armee befördert Erfolg der Start-ups

Und drittens? „Der letzte Punkt betrifft bei uns die Zeit in der Armee. Jede Frau und jeder Mann lernt bei uns sehr früh, Verantwortung zu übernehmen. Diese drei Faktoren wirken sehr erfolgreich zusammen.“ Und wirken sich in jungen Firmen, wo man Mut und Kreativität brauche, positiv aus. Auch Aviram diente vier Jahre beim israelischen Militär, wurde sogar Offizier, genauso wie sein Kompagnon Amnon Shashua.

Experten der israelischen Start-up-Szene sagen, dass der Erfolg vieler Gründer auf die Ausbildung in der Armee zurückgeht. Die Militäreinheit IDF 8200 beschäftigt sich mit Cybersicherheit und digitaler Spionage, dort werden nur die besten Talente aufgenommen. Und viele dieser Talente gehören heute zu Israels wichtigsten Gründern.

Und wie übersetzt Ziv Aviram Erfolg? „Erfolg ist das Ergebnis einer guten Lernkurve.“ Bleibt also abzuwarten, welche „Lernkurve“ die OrCam noch schreibt und ob sie dann an den historischen Verkaufserlös von Mobileye heranreichen wird.