Berlin. Kondomhersteller Einhorn verzichtet auf klare Hierarchien und Regeln. Gründer Waldemar Zeiler sieht darin die unternehmerische Zukunft.

Wenn keiner die Richtung vorgibt, verläuft sich die Herde. Um wieder zueinander zu finden, sitzen Waldemar Zeiler und alle anderen Einhörner dann in einem kleinen Raum, versteckt hinter einer Regalwand. Hier lassen die Mitarbeiter des Berliner Kondomherstellers Einhorn ihren Gefühlen freien Lauf.

„Wir heulen auch viel“, sagt Zeiler, „aber wir glauben, es lohnt sich.“ Zeiler hatte das Start-up vor etwas mehr als vier Jahren gegründet – und es kürzlich mit einer radikalen Entscheidung ins Chaos gestürzt – jedenfalls an manchen Tagen.

Er hat sich selbst abgeschafft, sich, den Chef. Keine Hierarchien gibt es mehr in diesem Unternehmen, jeder hat was zu melden, alle entscheiden.

Keine Hierarchie und kaum Regeln

Wenn in dem kleinen Raum alles gesagt ist, kommen die Einhörner wieder aus ihrer Höhle. Auch an diesem Tag, diesmal ohne Tränen. Zeiler drückt gegen den hölzernen Türgriff in Penis-Optik.

Seine langen Haare, die unter der Wollmütze hervorgucken, wippen leicht während er Richtung Küche schlendert. Hinter der Havana-Brille, ein glücklicher Blick, endlich muss er nicht mehr alles entscheiden.

Einhorn-Gründer Philip Siefer und Waldemar Zeiler.
Einhorn-Gründer Philip Siefer und Waldemar Zeiler. © Robert Wunsch | Robert Wunsch

„Die besten Dinge geschehen manchmal aus der Frustration heraus“, sagt Zeiler. Er war seiner Aufgaben schon lange überdrüssig geworden. Den Dienstplänen, den Personalgesprächen und allem voran den dauernden Diskussionen um die Gehälter.

Doch statt die Geschäftsführung neu zu besetzen, löste er sie vor einem Jahr auf. Seither ist Einhorn ohne jede Führung: Es gibt keine Hierarchie mehr und kaum Regeln: Keine vorgeschriebenen Arbeitszeiten, Urlaub nimmt sich jeder so viel er will.

Gehaltserhöhungen und Massagen

Jedes Jahr gibt es eine Gehaltserhöhung. Wer ein Kind bekommt, kriegt per se 400 Euro netto mehr, und alle zwei Wochen gibt es kostenfreie Massagen im Büro.

„Dass einer, der die größte Erfahrung hat, den Ton angibt, das ist Quatsch und damit wirst du auch nicht erfolgreich“, davon ist Zeiler überzeugt.

Aber der Erfolg kommt nicht von alleine. Die Einhörner müssen lernen, wie die Geschäfte ohne Chefs funktionieren. Regelmäßig besuchen sie Coachings, in denen sie gewaltfreies Kommunizieren lernen.

Gewaltfrei bedeutet in diesem Fall: nicht verbal verletzend oder angreifend. Das ist notwendig, denn wie einigt man sich auf eine Entscheidung, wenn keiner Entscheider ist? Oder alle. Kann jetzt bitte einfach irgendwer eine Entscheidung treffen?

Keine Beratung vor der Umstellung

„Die Frage fällt schon mal“, sagt Zeiler. Rat hat sich der 36-Jährige vor der Abschaffung der Geschäftsführung nicht eingeholt. Weil es schlichtweg keinen gibt, der damit Erfahrungen gemacht hat. Ein Alleingang war es aber nicht.

Chefs gibt es bei dem Unternehmen nicht wirklich.
Chefs gibt es bei dem Unternehmen nicht wirklich. © www.einhorn.my | www.einhorn.my

Zeiler hat gemeinsam mit seinem Mitgründer Philip Siefer und dem Einhorn-Nachhaltigkeitsteam darüber entschieden. Bislang funktioniert es – rein an den Zahlen gemessen: 2,2 Millionen Euro Umsatz erwirtschaftete das Unternehmen in diesem Jahr. Aber könnte das auch ein Modell für andere, für größere Unternehmen sein?

Der Wirtschaftspsychologe Uwe Kanning geht nicht davon aus, dass eine Firma ohne Führung funktionieren kann.

Mit einer kleinen Gruppe an Mitarbeitern vielleicht, aber schon die Anzahl von 20 bei dem Kondomhersteller hält er für kritisch. Es sei „unmöglich“ diese Struktur aufrecht zu erhalten, wenn die Firma größer werde.

Schnelle Entscheidungen sind kaum möglich, vieles muss erst basisdemokratisch diskutiert werden. Einhorn beschneide sich damit in seinem Wachstum. „Im klassischen Sinne“, sagt Kanning, „ist das gar kein Unternehmen.“

Kaum Unterschiede beim Gehalt

Zeiler sieht das anders: „Wir werden, obwohl wir es nicht wollen, wachsen. Jedes Jahr.“ Dabei gehe es bei Einhorn „überhaupt nicht um das Produkt“. Nur erreiche man damit die Menschen leichter.

Weniger Hierarchien, dafür mehr Feminismus und Nachhaltigkeit: Das Kondom sei gewissermaßen wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, mit dem Einhorn seine „Bewegung“ finanziere, wie es Zeiler erklärt.

In diesem Sinne wird im März das Sortiment um vier Produkte erweitert, die sich an die weibliche Kundschaft richten: Eine Menstruationstasse und Tampons, Binden sowie Slipeinlagen aus Biobaumwolle. Außerdem wollen sich die beiden männlichen Gründer in der Öffentlichkeit zurücknehmen.

„Unsere Frauen müssen auf die Cover“, fordert Zeiler. Er selbst stülpt sich auch gerne mal ein Vulva-Kostüm über, um ein Statement zu setzen – etwa wenn er vor anderen Firmenchefs Vorträge über die Einhorn-Philosophie der „Werte und Worte“ spricht.

Eine Frau als das neue Gesicht von Einhorn

Eine der Frauen, die das neue Gesicht von Einhorn werden könnte, ist Sandra Bayer. Die 31-Jährige arbeitet im Design-Team. Als sie bei Einhorn zu arbeiten anfing, war Zeiler noch der Chef. Es habe gedauert, bis sich alle an die Hierarchielosigkeit gewöhnt hätten.

Verantwortung übernehmen ist nicht jedermanns Sache, da knalle es schon mal und das „tut manchmal weh“, sagt sie. Aber es habe auch viel Gutes: Man arbeite nicht nur wegen der Kohle: „Es muss einem schon etwas daran liegen, dass der Laden läuft.“

Seit sie sich ihre Arbeitszeiten selbst einteilen kann, arbeite sie zwar weniger, dafür aber nach eigenem Empfinden deutlich besser. „Wenn ich da bin, will ich auch da sein und gebe mir Mühe, dass es gut wird.“

Wirtschaftspsychologe Kanning ist skeptisch: Er verbucht den Erfolg von Einhorn als „ein bisschen Glück“, gepaart mit gezielter Personalauswahl. Und die ist bei Einhorn notwendiger denn je. Wer hier den Erfolg und die persönliche Wertigkeit am Einkommen bemisst, hat es schwer.

Einige Mitarbeiter haben das Unternehmen verlassen

Eine klare Hierarchie, auch im Gehaltsgefüge, könnte dieses Gefühl befriedigen, nur gibt es diese bei Einhorn nicht mehr. „Beim Gehalt zerreißt es uns auch“, sagt Zeiler, während er sich nachdenklich durch den Vollbart streicht.

Zwar bekomme nicht jeder das gleiche, aber alle Gehälter lägen nah beieinander. Besonders für die Vertriebsabteilung, die sich klassisch über die Verkäufe und Boni profilierte, war das eine Zäsur, einige Mitarbeiter haben das Unternehmen verlassen.

„Es ist ein soziales, gutes System“, das sich an der Berufserfahrung und Selbsteinschätzung orientiere, erklärt Zeiler. Wer transparent erklären könne, warum er mehr verdienen sollte als andere, dürfe das auch. Den finanziellen Spielraum dazu hat das Unternehmen offenbar. Vielleicht wird sich daher erst in der Krise zeigen, ob das Einhorn-Modell eines für die Zukunft ist.