Berlin. Nur jeder fünfte ICE ist voll funktionstüchtig. Die Deutsche Bahn erörtert Strategien, um Pünktlichkeit und Effizienz zu verbessern.

An Schreckensmeldungen über den Zustand der Deutschen Bahn hat es in den vergangenen Monaten nicht gemangelt. Auch kurz vor einer zweitägigen Strategiesitzung von Vorstand und Aufsichtsrat der Bahn am Donnerstag gab es schlechte Nachrichten aus dem Staatskonzern: Dem TV-Magazin „Kontraste“ zufolge fehlen der Bahn derzeit fast 5800 Fachleute, vor allem in den Instandhaltungswerken und in den Führerständen der Lokomotiven.

Repariert würden oft nur noch sicherheitsrelevante Teile der Züge, die monatelang mit kaputten Türen oder anderen leichten Malaisen weiterfahren. Nur jeder fünfte ICE sei voll funktionstüchtig, zitiert „Kontraste“ einen internen Bericht der Bahn.

Züge halten nicht überall, fast 30 Prozent sind zu spät

Von weiteren Symptomen der tiefen Krise der Deutschen Bahn können deren Kunden ein Lied singen. Neuerdings fahren zum Beispiel am Berliner Hauptbahnhof startende Züge, die voll besetzt sind, am nächsten Halt in Spandau einfach durch, weil kein Passagier mehr mitgenommen werden kann. Im Oktober kamen nur 71,8 Prozent der Intercity, Eurocity und ICE pünktlich an ihre Ziele. Der Ausfall von Reservierungsanzeigern oder Kaffeemaschinen fällt dagegen schon gar nicht mehr ins Gewicht.

Es muss besser werden, das weiß man auch im Bahn-Vorstand. Deshalb beraten die Aufsichtsräte des Konzerns bis zu diesem Freitag mit dem Vorstand über ein rund 200 Seiten starkes Strategiepapier, das Wege aus dieser Krise skizzieren soll.

Dutzende Einzelmaßnahmen sind darin aufgeführt. Unter anderem will die Bahn Wartung und Instandhaltung ihrer Züge möglichst schnell verbessern. Dem Aufsichtsrat seien dazu „detaillierte und umfassende Vorschläge vorgelegt“ worden, sagte ein Sprecher des Konzerns.

Glasfasernetz könnte Geld einbringen

Druck kommt auch von der Politik: Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) verlangt schnelle Erfolge. Spätestens im nächsten Frühjahr müssten bei der Pünktlichkeit Fortschritte sichtbar werden. Denn bis 2030 soll sich die Zahl der Fahrgäste verdoppeln. Das geht nur mit mehr Qualität – also auch Pünktlichkeit.

Es gibt Zweifel, ob die Wende so schnell gelingen kann. Claus Weselsky, Chef der Lokführergewerkschaft GDL, sagt, die Probleme seien tief liegend. Er fürchtet, die Bahn sei so lange kaputtgespart worden, dass sie jetzt vor dem Kollaps stehe. So sagte er es „Kontraste“.

Knotenbahnhöfe seien überlastet

Bahnchef Richard Lutz weist einem anderen Umstand die Hauptschuld zu. Es fehle an Kapazitäten für mehr Verkehr auf den Schienenwegen. Vor allem die Knotenbahnhöfe in Frankfurt, Hamburg, Köln, Mannheim und München sind überlastet. Allein dadurch kommt die Hälfte der Verspätungen zustande. Auch fehlen Züge, um das wachsende Passagieraufkommen zu bewältigen.

Mehr und mehr macht sich auch der Personalmangel bemerkbar. Erkranken Lokführer, fallen Züge schon einmal ganz aus. Mittelfristig hat Lutz Vorstellungen, wie die Misere beendet werden kann: durch Investitionen in die Digitalisierung der Bahn und zusätzliche Züge. Doch beides kostet viel Geld.

Finanzbedarf? Fast fünf Milliarden Euro

Darum geht es am Ende auch in der Strategiesitzung. Fast fünf Milliarden Euro zusätzlich braucht die Bahn, wenn sie pünktlicher und effizienter werden soll. Nur kann das Unternehmen das nötige Geld nicht mehr allein aus den Gewinnen aufbringen. Der Konzern ist mit fast 20 Milliarden Euro verschuldet. Bald ist die vom Parlament verordnete Schuldenobergrenze von 20,4 Milliarden Euro erreicht.

Neue Kredite zur Finanzierung der Vorstandsstrategie verbieten sich daher. Schon im Herbst hat Bahnchef Lutz mit einem Brandbrief an seine Führungskräfte viele Missstände im Unternehmen angeprangert und die Ausgaben der einzelnen Ressorts praktisch unter Beobachtung gestellt.

Mehr Fahrgäste, die jedoch weniger zahlen

Klamm ist die Deutsche Bahn, weil zwar immer mehr Menschen mit ihr fahren, aber im Schnitt weniger dafür zahlen. Auch schafft es das Unternehmen nicht, den Dauerverlustbringer Güterverkehr wieder nachhaltig in die schwarzen Zahlen zu bringen. Zudem sind die Gewinne aus dem staatlich finanzierten Regionalverkehr im ersten Halbjahr regelrecht eingebrochen.

Woher die nötigen Milliarden kommen könnten, wird wohl erst im kommenden Jahr entschieden. Es gibt mehrere Optionen. Naheliegend und vom Vorstand erwünscht ist eine Vermarktung des wertvollen Glasfasernetzes entlang der Schienenwege.

Darüber könnte das superschnelle Internet weit in die Fläche hineingetragen werden. 18.000 Kilometer lang ist dieses Netz schon heute. Nur einen kleinen Teil der Kapazitäten nutzt die Deutsche Bahn selbst.

Eine zweite Geldquelle wäre ein Teilverkauf der Spedition Schenker oder der britischen Verkehrstochter Arriva. Beide Unternehmen tragen allerdings erheblich zum Bahngewinn bei. Besonders Arriva hat sich als lohnenswertes Engagement erwiesen. Die Firma betreibt Busse und Bahnen im europäischen Ausland.

Strecken sollen digitalisiert werden

Als dritte Option könnte der Bund als Eigentümer der Bahn erneut Milliarden springen lassen. Das ist jedoch kaum wahrscheinlich, weil auf den Steuerzahler ohnehin zusätzliche Ausgaben für die Bahn zukommen. Denn unabhängig von der Unternehmensstrategie kosten der Erhalt von Schienenwegen und die Sanierung maroder Brücken in den kommenden Jahren Millionen.

Dafür ist der Staat zuständig. Überdies soll das Netz digitalisiert werden. Nur dann können mehr Züge in kürzeren Abständen fahren. Das alles wird in einer Leistungs-und-Finanzierungsvereinbarung festgeschrieben, wohl im kommenden Jahr. Es liegt also nicht an der Bahn allein, den Schienenverkehr zum modernsten Verkehrsträger auszubauen.