Berlin. Nach dem Chaos-Sommer mit Ausfällen und Verspätungen stehen Fluggästen in Deutschland mehr als 800 Millionen Euro Entschädigung zu.

Dieser Sommer wird Flugreisenden im Gedächtnis bleiben. Im Jahr nach der Pleite von Deutschlands zweitgrößter Fluggesellschaft, Air Berlin, sortierten sich die Machtverhältnisse am Himmel mit erheblichen Problemen neu. Die Folge: unzählige Ausfälle und stundenlange Verspätungen.

Oft stehen Passagieren nach EU-Recht Entschädigungen zu. Die Ansprüche summierten sich nach Angaben des Fluggastrechte-Portals Airhelp für Reisende in Deutschland bis Ende September auf 823 Millionen Euro. Im Vorjahr waren es bis zu diesem Zeitpunkt 310 Millionen Euro.

Lufthansa besonders getroffen

Besonders betroffen war laut Airhelp Marktführer Lufthansa, bei dem es bis zum 22. September 10 470 Flüge gegeben habe, die Passagiere zu Entschädigungen berechtigten. Im Vorjahr seien es 2580 gewesen. Ähnlich entwickelten sich die Zahlen beim Billigableger Eurowings: 5250 Flüge nach 910 im Vorjahr. Bei Ryanair und Easyjet stiegen die Zahlen von 260 auf 960, beziehungsweise von 230 auf 790. Bei Ausfällen und Verspätungen über drei Stunden stehen Fluggästen je nach Distanz 250 bis 600 Euro zu.

Die Zahlen von Airhelp will keine Fluggesellschaft auf Nachfrage bestätigen. Lufthansa erklärt, dass man in diesem Jahr 2,5 Prozent der Flüge gestrichen hat. Im ersten Halbjahr habe die Lufthansa-Gruppe, zu der auch Eurowings, Austrian Airlines und Swiss zählen, für Kompensationen und Erstattungen etwa von Hotelkosten 70 bis 80 Millionen Euro aufgewendet.

Ryanair schimpft über Fluggastrechte-Portale

Die Ursachen sind vielfältig. Lufthansa nennt schlechtes Wetter, Streiks, knappe Kapazitäten an Flughäfen wegen des Wachstums des Luftverkehrs, die Insolvenz von Air Berlin, Lieferprobleme bei Triebwerksherstellern und einen vollen Luftraum über Deutschland.

Ähnliche Gründe, die sich „überwiegend außerhalb der Kontrolle der Airline befanden“, führt Easyjet an. „Der Flugmarkt ist erheblich durcheinandergewirbelt in diesem Jahr“, sagt Sabine Fischer-Volk, Reiserechtsexpertin der Verbraucherzentrale Brandenburg.

Viele Passagiere verzichten auf Entschädigung

Längst nicht jeder Passagier macht seine Ansprüche geltend, aus Unwissenheit oder wegen des Aufwands. Dienstleister wie Airhelp, EU-Claim oder Fairplane werben damit, die Forderungen nach wenigen Mausklicks einzutreiben. Im Erfolgsfall behalten sie bis zu ein Drittel der Summe als Gebühr ein. „Einfacher geht es auf eigene Faust vielleicht nicht, aber auf jeden Fall günstiger“, sagt Verbraucherschützerin Fischer-Volk.

Die Airlines sind nicht gut zu sprechen auf die Rechtsdienstleister. Billigflieger Ryanair etwa nennt Airhelp eine „Ausgleichsjäger-Firma“, die einen „teuren und unnötigen Service“ biete. Kunden sollten ihre Ansprüchen lieber direkt bei der Fluggesellschaft anmelden. Seit diesem Jahr bearbeite ein eigenes Team die Reklamationen – Anträge sollen nach zehn Werktagen bearbeitet sein. Ryanair sieht sich hier „branchenführend“.

Airlines wollen Entschädigungsanträge schneller abarbeiten

Lufthansa gesteht ein, dass die schiere Zahl der Problemflüge in diesem Jahr zu Verzögerungen bei den Erstattungen führte: „Lufthansa bedauert das sehr und bittet die betroffenen Fluggäste entsprechend um Geduld und Verständnis für die Situation“, hieß es auf Nachfrage. Der Kundendialog sei um 200 auf 700 Mitarbeiter verstärkt worden. Zusätzlich arbeiteten vorübergehend Verwaltungsmitarbeiter in diesem Bereich. Standardfälle will das Unternehmen künftig automatisiert abarbeiten.

Easyjet bietet nach eigenen Angaben ein „einfach verständliches“ Onlineformular für die Entschädigungszahlungen. Anträge will die Airline innerhalb von 28 Tagen bearbeiten. Die Briten wollen noch in diesem Jahr schneller werden. Passagiere erhielten im Schnitt 170 Pfund (190 Euro) an Ausgleichs- und Kulanzzahlungen.

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    Auffällig sei bei der Abwicklung der Ansprüche keine Airline, sagt Verbraucherschützerin Fischer-Volk. „Es ist ganz selten, dass Fluggesellschaften die Forderungen ablehnen, wenn wir uns einschalten.“

    Schlichtungsstelle registriert vier Mal mehr Fälle als im Vorjahr

    Kommt es doch zum Streit, hilft die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr (SÖP). In vier von fünf Fällen kann sie eine Einigung herbeiführen. In diesem Jahr ist die Fallzahl explodiert. Im August baten 4244 Passagiere um Hilfe, im Vorjahr waren es 1122. Bis zum 25. September gingen 3065 Anträge ein, im ganzen Vorjahresmonat waren es 873. Nach 11 817 Schlichtungsanträgen im Gesamtjahr 2017 waren es in diesem Jahr bis Ende September bereits 20 861.

    Um weiteres Chaos zu vermeiden, treffen sich am Freitag Verkehrsminister aus Bund und Ländern mit Vertretern der Luftverkehrswirtschaft in Hamburg. Bei dem Fluggipfel soll ausgelotet werden, wie das Wachstum der Branche nach dem Krisenjahr 2018 besser bewältigt werden kann.