Frankfurt/Main. Das Ende der Jamaika-Sondierungen enttäuscht Deutschlands Unternehmen und Wirtschaftsexperten. Sie warnen vor einer Hängepartie.

Für die Wirtschaft ist ein Zustand der Unsicherheit der Schlimmste. Und genau das gilt derzeit für Deutschland. Nach dem Aus für die Jamaika-Koalition fürchten Ökonomen und Wirtschaftsvertreter eine „Hängepartie“ und reagieren entsprechend enttäuscht. Kurzfristig, so der Tenor, dürfte die Konjunktur weiter sehr gut laufen, aber auf längere Sicht würden nötige strukturelle Entscheidungen aufgeschoben – mit teils dramatischen Folgen.

Der Dax erholte sich schnell und drehte ins Plus

Dass nicht alle die Lage so sehen, zeigte sich am Montag an den Märkten. Zunächst fiel der Euro zum Dollar, auch der Deutsche Aktienindex Dax verlor deutlich. Doch schon im Laufe des Vormittags ging es wieder aufwärts. Vor allem der Dax drehte deutlich ins Plus. Offenbar rechnen die Anleger mit einer schnellen Lösung des Regierungsproblems.

Die Wirtschaftsexperten sind dennoch eher grummelig: „Es ist fatal und kein gutes Signal für Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland, dass die sondierenden Parteien nicht in der Lage waren, sich auf tragfähige Kompromisse zu verständigen, um Deutschland fit für die Zukunft zu machen“, sagt Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer. Stillstand beim Regierungshandeln und politische Ungewissheit seien „Gift für die Wirtschaft“.

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    „Eine Hängepartie kann sich Deutschland nicht leisten“

    Ähnlich enttäuscht zeigt sich Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK). „Die Unternehmen sind auf pragmatische und verlässliche Rahmenbedingungen angewiesen. Erst recht in einer Zeit europäischer und internationaler Verschiebungen.“ Die deutsche Wirtschaft habe auf das Aufbrechen von Blockaden gehofft in der Zuwanderung, der Energiepolitik und der dringend erforderlichen Modernisierung des Landes.

    Möglichst schnell stabile politische Verhältnisse wünscht sich der Branchenverband Maschinen- und Anlagenbau VDMA: „Eine Hängepartie kann sich Deutschland in keiner Hinsicht leisten“, sagte dessen Hauptgeschäftsführer Thilo Brodtmann.

    Ausländische Firmen hielten sich zurück mit Standortentscheidungen

    Die Unsicherheit sei tatsächlich jetzt ein großer Hemmschuh, warnt Gertrud Traud, Chefvolkswirtin der Helaba. Denn Unternehmen warteten mit Investitionen. Und ausländische Firmen hielten sich erst einmal zurück bei Standortentscheidungen. „Deutschland macht jetzt den Eindruck eines politisch unsicheren Kandidaten, und das ist sehr bedauerlich“, sagte Traud.

    „Das Scheitern der Sondierungsgespräche zeigt, wie stark Deutschland inzwischen auch politisch polarisiert ist“, kommentiert Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Dass es nicht mehr gelinge, einen Konsens zu finden, zeige den indirekten Einfluss der AfD. „Die Parteien, die die Sondierungsgespräche geführt haben, haben sich immer nur über rote Linien geeinigt, aber nicht über Ziele und Visionen“, bemängelt der DIW-Präsident. Dabei habe Deutschland riesige Herausforderungen – etwa bei der dringenden Reform Europas.

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      Übergangsregierungen gab es in Westeuropa häufiger

      Die Frage, wie Deutschland in zehn bis zwanzig Jahren wettbewerbsfähig bleiben kann, sei offen, es fehle nicht nur an einer Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung, sagt Fratzscher. Beantwortet werden müsse auch: „Wie kann wieder mehr Teilhabe geschaffen werden über ein besseres Bildungssystem?“ Deshalb müsse die neue Regierung schnell gebildet werden und nicht erst in einem halben Jahr.

      Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING-Diba, beruhigt: Auch andere westeuropäische Volkswirtschaften hätten schon monatelang mit einer Übergangsregierung leben müssen, ohne dass die Wirtschaft zusammengebrochen sei. Er nennt die Niederlande, wo es sieben Monate gedauert habe, und Belgien mit zwei Jahren. „Kurzfristig sind Übergangsregierungen nicht unbedingt schlecht für die Wirtschaft“, sagt er, auch wenn sie nur verwalteten.

      Die Herausforderungen sind mittel- und langfristiger Natur

      Die deutsche Wirtschaft befinde sich in einem langen und robusten Aufschwung, sagt Christoph M. Schmidt. Er leitet den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der gerade seine Prognose für 2017 und 2018 angehoben hat. Aber auf mittlere und lange Sicht gebe es große Herausforderungen. Schmidt nennt demografischen Wandel, Digitalisierung, die sinnvolle Weiterentwicklung der EU, Klimawandel.

      Die Regierungsbildung betrachtet er mit Sorge: „Ein Bündnis, dessen Partner sich in den kommenden Jahren vor allem gegenseitig blockieren würden, wäre wohl noch schlechter als eine schleppende Regierungsbildung.“