Berlin. Trotz niedriger Arbeitslosigkeit nehmen die Verdienste der Beschäftigten nur verhalten zu. Forscher sehen einen Grund in prekären Jobs.

Es ist eine widersprüchliche Entwicklung: Die Wirtschaft in Deutschland boomt, die Arbeitslosigkeit ist niedrig, und trotzdem „steigen die Löhne der Beschäftigten nur langsam“. Zu diesem Schluss kommt die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung in ihrer neuen Analyse der Verdienste in Deutschland und Europa.

Im Jahr 2016 legten die Reallöhne der bundesdeutschen Arbeitnehmer um durchschnittlich 1,9 Prozent zu, erklärt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in ihrem europäischen Tarifbericht. Die Reallöhne sind diejenigen Verdienste, die nach Abzug der Inflation in den Geldbeutel der Beschäftigten ankommen. Weil die Inflation nun in diesem Jahr im Vergleich zu 2016 wieder etwas anzieht, dürften die tatsächlichen Einkommen 2017 nur um 0,8 Prozent wachsen.

Wirtschaftswissenschaftler rätseln über die Ursachen

Obwohl nicht alle Wirtschaftsforscher die negative Einschätzung des WSI teilen – Hagen Lesch vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) etwa sagt, „die Lohnentwicklung ist angemessen“ – die kaum anziehenden Löhne stellen Ökonomen vielfach vor ein Rätsel. Schließlich geht es der deutschen Wirtschaft seit Jahren sehr gut. Die Anzahl der Erwerbstätigen erreicht Jahr für Jahr neue Rekorde. Derzeit haben 44 Millionen Menschen eine Arbeit. Die offizielle Erwerbslosigkeit ist mit 2,5 Millionen Personen gering. Eigentlich müssten in dieser Lage die Löhne stärker steigen, meint das WSI. Denn normalerweise bestimme die Nachfrage den Preis. Wenn die Unternehmen dringend Arbeitnehmer suchen, sollten sie also bereit sein, mehr zu zahlen.

Ein Grund könne sein, dass der technische Fortschritt eher langsam in den Unternehmen umgesetzt werde, sagt WSI-Forscher Thorsten Schulten. Die Digitalisierung, die Beschleunigung und effektivere Gestaltung der Arbeitsprozesse durch das Internet, halte weniger schnell Einzug, als viele meinten, so Schulten. Und diese mäßige Steigerung der Produktivität schränke den finanziellen Spielraum ein, den die Firmenvorstände für Lohnzuwächse zur Verfügung stellten.

„Prekäre Beschäftigungsverhältnisse“ sind ein Grund

Das sieht Lesch ähnlich: „Viele neue Arbeitsplätze werden im Dienstleistungssektor geschaffen, zum Beispiel bei Zustellfirmen.“ Dabei handele es sich eher um einfache Tätigkeiten ohne höhere Qualifikationen. Als zweite mögliche Ursache der vergleichsweise geringen Lohnzuwächse betrachtet WSI-Ökonom Schulten die „prekären Beschäftigungsverhältnisse“. Rund ein Fünftel der Erwerbstätigen arbeiten mittlerweile unter anderem für sehr niedrige Löhne, in Teilzeitjobs oder befristeten Stellen. „Diesen Arbeitnehmern fehlt die Verhandlungsmacht, um höhere Löhne durchzusetzen“, sagt Schulten.

Eine Forderung der gewerkschaftsnahen Forscher lautet deshalb, die Bundesregierung solle die schlechten Jobs per Gesetz zurückdrängen. Dadurch könnten die Löhne im unteren Bereich, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und schließlich auch die Produktivität in den Unternehmen angeschoben werden. Als Ökonom eines arbeitgebernahen Instituts muss Lesch hier dagegen warnen: „Die Nachfrage ist bereits groß genug.“

Die Konjunktur hat in vielen Ländern der EU wieder angezogen

Europaweit ist die verhaltene Lohnentwicklung leichter zu erklären. Zuletzt hat die Konjunktur in vielen EU-Ländern wieder angezogen – auch in südlichen Ländern wie Portugal und Spanien. Trotz Wirtschaftswachstums betrug die Lohnsteigerung 2016 real plus 1,5 Prozent.

Nicht viel, aber auch nicht erstaunlich: Darin spiegeln sich die Spätfolgen der Finanzkrise. In Griechenland liegen die Löhne heute durchschnittlich um 23 Prozent unter dem Niveau von 2010, in Portugal um 8,6 und in Spanien um 5,5 Prozent.