Athen. Nach der Krise kommt die Wirtschaft in Griechenland langsam wieder in Gang. Doch bei den Menschen hat der Absturz Spuren hinterlassen.

Sotiris hat einen Traum: „In die eigene Wohnung ziehen, heiraten, eine Familie gründen.“ Was für die meisten jungen Europäer eine fast selbstverständliche Lebensperspektive ist, erscheint dem 32-jährigen Griechen unerreichbar. Er wohnt immer noch bei seinen Eltern. Vor sechs Jahren schloss Sotiris sein Ingenieurstudium an der Universität Patras mit einem Diplom ab, aber gearbeitet hat er bisher nicht in seinem Beruf. „Das Studium war umsonst“, sagt der junge Mann resigniert. Hunderte Bewerbungen hat er geschrieben – erfolglos.

In der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen, zu der Sotiris gehört, liegt die Arbeitslosenquote bei 27,6 Prozent. Auch gut qualifizierte Akademiker haben große Schwierigkeiten, eine Stelle zu finden. Der studierte Ingenieur schlägt sich mit wechselnden Jobs durch, zurzeit arbeitet er als Kellner in einem Athener Museumscafé. Hier, im Stadtteil Kolonaki, scheint die griechische Krise fast vergessen: teure Restaurants, schicke Boutiquen, noch schickeres Publikum, das zum Shoppen in dieses noble Viertel kommt.

Einkommen reicht nicht für eigene Wohnung

Aber der verhinderte Ingenieur Sotiris spürt die Krise mehr denn je. „650 Euro bekam ich bei meinem vorigen Job als Kellner im vergangenen Jahr, jetzt sind es nur noch 580 Euro.“ Dafür arbeitet er bis zu zehn Stunden am Tag, sechs Tage in der Woche. Für eine eigene Wohnung reicht das Einkommen nicht, und schon gar nicht für die Gründung einer Familie. Am meisten aber betrübt Sotiris, dass er seinen Eltern „immer noch auf der Tasche liegt“, wie er sagt. „Sie haben unter Entbehrungen mein teures Studium finanziert, jetzt wäre es für mich an der Zeit, etwas zurückzugeben.“

Sotiris ist keine Ausnahme. Vier von zehn Beschäftigten in Griechenland verdienen weniger als 700 Euro brutto im Monat. Nach einer Studie der griechischen Zentralbank haben die Griechen in den Krisenjahren durchschnittlich 26 Prozent ihres Einkommens und 40 Prozent ihres Vermögens verloren. In einem Drittel der griechischen Haushalte gibt es mindestens einen Arbeitslosen. Fast die Hälfte der 18- bis 35-Jährigen ist finanziell von den Eltern abhängig. Jede zweite Familie hält sich mit den Renten der Eltern und Großeltern über Wasser. Das ist nicht leicht, denn jeder zweite Rentner in Griechenland bekommt weniger als 500 Euro im Monat.

Tsiros fürchtet um die Zukunft seiner Kinder

Wer über die Attiki Odos, die Athener Stadtautobahn, nach Westen fährt, kommt nach Ano Liosia. Eine Schotterstraße führt zu dem kleinen Betrieb von Vasilis Tsiros. Er ist Zimmermann. „Die Schreinerei hat mein Vater aufgebaut“, erzählt der 60-Jährige. 1985 übernahm er die Firma, expandierte. „Ich wollte mehr daraus machen, vor allem für Tety und Tasos, meine Kinder.“ Tsiros hat den Laden in Schwung gebracht. Er machte sich einen Namen als Lieferant hochwertiger Ladeneinrichtungen, baute Küchen und Schrankwände für exklusive Eigentumswohnungen. „Das Geschäft lief glänzend“, sagt Tsiros rückblickend.

Acht Angestellte hatte der Betrieb. „2007 habe ich einen Kredit aufgenommen, 250.000 Euro – wir brauchten neue Maschinen, eine größere Halle, eine Sprinkleranlage …“ Dann kam die Krise. „Binnen zwei Jahren hat sich unser Auftragsvolumen auf ein Viertel reduziert“, sagt Tsiros. Erholt hat sich seine Firma bis heute nicht. „Ein Drittel unserer Kunden ist pleite. Von den restlichen zahlen viele nicht mehr, obwohl sie es könnten“, klagt der Unternehmer. Er sitzt auf einem Berg von Forderungen, die er vermutlich nie eintreiben kann. Einen Teilzeitarbeiter beschäftigt Tsiros noch.

Ein Viertel der Wirtschaftskraft eingebüßt

Sein 27-jähriger Sohn Tasos arbeitet in der Werkstatt, die 33 Jahre alte Tochter Tety macht das Design der Möbel und die Buchhaltung des Unternehmens. Die Tsiros sind ehrliche, fleißige Leute – die am Leben verzweifeln. „Früher war ich stolz auf meine Arbeit“, sagt er. „Jetzt habe ich keine Freude mehr daran, die Probleme sind einfach zu groß“, sagt Vasilis Tsiros. „Was mich aber am traurigsten macht, ist die Erkenntnis, dass es meine Kinder nie so gut haben werden wie ihre Eltern.“ Seit Beginn der Finanzkrise hat Griechenland rund ein Viertel seiner Wirtschaftskraft eingebüßt.

Gut 31.000 Firmen mit mehr als zehn Beschäftigten gab es 2008 in Griechenland. Davon sind jetzt nicht einmal 22.000 übrig. Griechenland erlebte die längste und tiefste Rezession, die ein europäisches Land jemals in Friedenszeiten durchzumachen hatte. Folgenschwerer als die Einbuße der Wirtschaftskraft ist aber ein anderer Verlust: Hunderttausende Griechinnen und Griechen kehrten ihrem Land den Rücken. Fotini Lambropoulou könnte bald dazugehören. Seit drei Jahren arbeitet die junge Ärztin in einem staatlichen Krankenhaus in Athen – „unter Bedingungen, die für das Personal, vor allem aber für die Patienten unzumutbar sind“, wie sie sagt.

Das Land hat eine lange Auswanderertradition

„Kaputte Geräte auf der Intensivstation, veraltete Operationssäle, unbesetzte Stellen – Mangelwirtschaft überall“, klagt Fotini. Manchmal gibt es keine Gummihandschuhe mehr. Die kauft sie dann auf eigene Rechnung in der Apotheke gegenüber. Lange hat die 30-jährige Ärztin mit sich gerungen: Gehen oder Bleiben? Jetzt hat sie sich entschlossen: „Ich wandere aus.“ Im Oktober tritt sie ihre neue Stelle an einer Klinik in Bologna an. „Dort sind die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung besser“, sagt Fotini. Bis zum Herbst will sie ihr Italienisch polieren. Griechenland hat eine lange Auswanderertradition.

Aber während es in den 50er- und 60er-Jahren vor allem ungelernte Arbeitskräfte aus dem armen Norden des Landes waren, die nach Europa – vor allem nach Deutschland – gingen, verliert Griechenland jetzt seine besten Talente. Seit Beginn der Krise haben etwa 500.000 Griechen ihr Land verlassen. Nach einer Untersuchung des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz besitzen 88 Prozent der neuen Auswanderer einen Universitätsabschluss, 60 Prozent einen Master und elf Prozent einen Doktortitel.

Gute Geschäfte in der Krise

Griechenland verliere „seine Jüngsten, Besten und Begabtesten“, heißt es in der Studie. Und anders als die griechischen „Gastarbeiter“, die überwiegend nach einigen Jahren oder Jahrzehnten in ihre Heimat zurückkehrten, werden die meisten der neuen Auswanderer wohl für immer im Ausland bleiben. Aber es gibt auch Griechen, die in der Krise gute Geschäfte machen. Wie Giannis. Sein Laden ist in der „Florida Mall“ im Athener Küstenvorort Glyfada. Das Einkaufszentrum hat bessere Tage gesehen. Nichts hier erinnert an Miami oder Orlando. Viele Läden stehen leer – die Folgen der Krise.

Im ersten Stock der „Florida Mall“ haben sich nur noch ein Friseur und ein Nagelstudio halten können. Und Giannis mit seinem Laden. Er hat vor drei Jahren eröffnet. Die einzige Dekoration im Schaufenster ist eine elektronische Anzeigetafel: „Bargeld sofort!“, verspricht sie in großen Buchstaben. Darunter steht: „Wir kaufen Gold, Uhren, Münzen, Schmuck“. Giannis möchte seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen. „Diskretion ist alles in diesem Geschäft“, sagt der Mittvierziger.