Frankfurt/Main. Notenbank-Chef Mario Draghi deutet erstmals eine Wende bei der europäischen Zinspolitik an. Weitere Zinssenkungen soll es nicht geben.

Die Zinsen im Euroraum bleiben niedrig, aber weitere Zinssenkungen sind vorerst ausgeschlossen. Das sagte der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, gestern zwar nicht so deutlich – aber wie so oft in der Sprache der Notenbanken, war Unausgesprochenes fast wichtiger als Gesprochenes: Die Zinsen blieben „für längere Zeit und weit über den Zeithorizont des Nettoerwerbs von Vermögenswerten hinaus auf dem aktuellen Niveau“, sagte er – ließ jedoch den lange üblichen Zusatz aus: „oder einem niedrigeren“ Niveau.

Die Ankäufe von Staats- und Unternehmensanleihen im Volumen von 60 Milliarden Euro monatlich will die Notenbank aber bis Ende Dezember fortsetzen – oder „darüber hinaus, wenn nötig“. Und noch eine Änderung in der sonst üblichen Wortwahl Draghis fiel auf: Draghi sprach nicht mehr von Abwärtsrisiken für die Wirtschaft im Euroraum, die Wachstumsrisiken seien vielmehr ausgewogen.

Plant EZB Ausstieg aus lockerer Geldpolititk?

All dies verlas Draghi bewusst langsam und deutlich, wie es schien. Denn mit diesen kleinen Änderungen in der Wortwahl schwenkt die EZB allmählich um, interpretierten Beobachter der Geldpolitik anschließend. Vor allem die Formulierung, die Zinsen auf ihrem aktuellen Niveau zu belassen, registrierten die Finanzmärkte mit großer Aufmerksamkeit. „Das ist eine zarte Ankündigung, dass die EZB auf Sicht den Ausstieg aus der lockeren Geldpolitik plant“, sagte Martin Lück, Chefanlagestratege Deutschland des weltgrößten Vermögensverwalters Blackrock.

Als ersten „Minischritt“ in diese Richtung sieht das auch Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der Bank ING-Diba. „Die EZB hat vorsichtig die geldpolitische Wende eingeleitet, wenn auch nur mit Worten“, meint auch Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Es sei ein „wichtiger Schritt in die richtige Richtung“.

Prognosen für Wirtschaftswachstum fallen positiv aus

Gründe für die angedeutete Wende liegen etwa in der erstaunlich starken Wirtschaftslage der Eurozone. Die EZB-Volkswirte setzten ihre Erwartungen an das Wirtschaftswachstum im Euroraum gegenüber den letzten Schätzungen vom März auf nun 1,9 Prozent für 2017 herauf, mit 1,8 Prozent rechnen sie für 2018. Allerdings bleibt die Inflationsrate wohl niedrig: Für das gesamte Jahr werde sie 1,5 Prozent betragen, 2018 auf 1,3 Prozent sinken. Das ist immer noch zu niedrig.

Denn die Notenbank sieht Preisstabilität bei einer Preissteigerungsrate von „unter, aber nahe zwei Prozent“. Im Mai hatte sie im Euroraum bei 1,4 Prozent gelegen, die Kerninflationsrate, bei der die häufig schwankenden Preise für Energie und Nahrungsmittel nicht einfließen, sogar nur bei 0,9 Prozent. Deshalb war ein Zinsschritt gestern auch noch nicht erwartet worden. Diese Kerninflationsrate sei seit Monaten gleich, sagte Draghi. Immerhin sehen die Geldpolitiker aber, dass die Gefahr einer Deflation nicht mehr bestehe.

EZB will weiter Staatsanleihen kaufen

Ihr Programm zum Kauf von Staats- und Unternehmensanleihen will die EZB aber weiter fortführen. Bis Ende des Jahres plant sie, wie bisher weiter für monatlich 60 Milliarden Euro solche Wertpapiere am Markt zu kaufen. Doch Experten rechnen damit, dass die EZB bei ihren kommenden Ratssitzungen im Juli und September einen allmählichen Ausstieg aus dem Programm andeuten könnte.

Das müsse sehr vorsichtig geschehen, sagt Martin Lück von Blackrock, sonst drohe ein „Crash“ am Anleihenmarkt. Den hatte es zuletzt in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegeben. „Das werden die Geldpolitiker versuchen zu vermeiden“, vermutet Lück.