Berlin. Dank Internet und schneller Datenleitungen entsteht neue Arbeit – Crowdworking genannt. Doch davon können viele Menschen kaum leben.

Karin Kneer (65) ist eine moderne Beschäftigte. Sie arbeitet für die Internet-Plattform Crowd Guru. Die Firma sitzt in Kreuzberg, Kneer wohnt im gut 500 Kilometer entfernten nordrhein-westfälischen Schalksmühle. Kneer ist eine der vielen Crowdworker oder digitalen Wanderarbeiter, die das Internet hervorgebracht hat. Im Schnitt verdient sie etwa drei Euro brutto pro Stunde, ungefähr 400 Euro pro Monat – mit einer Beschäftigung, die einem Vollzeitjob ähnelt.

Fast täglich meldet Kneer sich von zu Hause mit ihrem Computer auf der Internetseite von Crowd Guru an und arbeitet dann sechs bis sieben Stunden. Sie kategorisiert zum Beispiel Konsumgüter für Onlineshops. Auf ihrem Bildschirm erscheinen etwa Fotos, die Herrenhemden mit langem Arm zeigen sollen. Sie muss dann jene Produkte aussortieren, die nicht in diese Kategorie passen. Solche Arbeiten werden pro Vorgang mit einigen Cent bezahlt.

Es sind Tätigkeiten, die die neue Digitalwirtschaft hervorbringt. Nicht selten müssen die Arbeitnehmer mit sehr niedrigen Verdiensten und löchriger sozialer Absicherung zurechtkommen. Andererseits sitzen sie nicht mehr in einem Büro, eingebunden in eine Organisation, von Vorgesetzten kontrolliert, sondern können sich ihren Tagesablauf selbst einrichten. Jobs wie der, den Kneer erledigt, halten manche Experten für Vorboten einer großen Umstrukturierung, die in den kommenden Jahrzehnten Millionen Arbeitsplätze auch in Deutschland verändern könnte.

„Bin froh, dass ich überhaupt Arbeit habe.“

„Die Bezahlung ist gering“, sagt Kneer. „Aber ich bin froh, dass ich überhaupt Arbeit habe.“ Ihre Einnahmen sind für sie ein Zuverdienst, der auf ihr Arbeitslosengeld II angerechnet wird. Dieses erhält sie, seitdem sie ihre Keramik-Werkstatt vor drei Jahren aufgeben musste. Ausgebeutet fühlt sie sich nicht. Als Vorteile ihrer Tätigkeit betrachtet sie die „freie Zeiteinteilung und das Arbeiten zu Hause“.

Crowdworker – dieser Begriff setzt sich zusammen aus den englischen Wörtern für „Menschenmenge“ und „Arbeit“. Hans Speidel (42) bietet diese Art der Beschäftigung an. Er ist Mitgründer von Crowd Guru und arbeitet im dritten Stock eines alten Fabrikbaus am Spreeufer in Berlin. Sein Geschäftsmodell funktioniert grundsätzlich so: Ein Unternehmen beauftragt Crowd Guru mit Tätigkeiten, die sich in zahlreiche kleine, identische Arbeitsschritte und Aufgaben zerlegen lassen. Diese Mikrojobs veröffentlicht die Berliner Firma auf ihrer Webseite. Die 50.000 dort angemeldeten Selbstständigen, die registrierten „Gurus“, können die Jobs anklicken. Wer sie vom eigenen Rechner aus erledigt, wird dafür bezahlt.

„Die Gurus malten etwa Bilder von Straßenszenen aus“, sagt Speidel. Die Bordsteine werden beispielsweise immer rot, die Verkehrsschilder blau, Passanten orange und andere Autos grün. Zehntausende solcher Szenen dienen dann dazu, den Steuersystemen der automatisch fahrenden Autos der Zukunft das nötige Wissen beizubringen. Auftraggeber könnte in diesem Fall ein Autokonzern sein oder ein Software-Entwickler, der für diesen arbeitet. Andere Tätigkeiten, die oft ausgelagert werden, sind Smartphone-Programme testen, Texterstellung für Werbe-Webseiten oder Firmen- und Adressinformationen überprüfen.

Die Zahl der Crowdworker lässt sich nur schätzen

Wie viele Leute in Deutschland mittlerweile als Crowdworker arbeiten, ist schwierig zu schätzen – vielleicht gut 100.000. Marktführer Clickworker gibt an, es seien mehr als 800.000 Selbstständige registriert. Vermutlich verdienen aber nur wenige wirklich Geld. Dies legt die Einschätzung von Crowd-Guru-Chef Speidel nahe. Er sagt, dass von seinen 50.000 Registrierten monatlich immer nur einige Tausend parallel aktiv seien.

Freilich wächst die Branche. Konzerne wie Deutsche Telekom, Daimler, Audi und Sixt vergeben Aufträge an die Plattformen. In den USA betreibt der Online-Händler Amazon einen eigenen Crowdworking-Ableger Mechanical Turk.

Crowd Guru selbst ist kein Selbstläufer. Investoren müssen derzeit noch die Finanzierung sicherstellen. „Der Wettbewerb ist stark“, sagt Speidel, „mitunter sind unsere Preise jetzt schon zu hoch, um gegen die internationale Konkurrenz zu bestehen.“ Dies spiegelt sich in den Honoraren der Gurus. „Der Durchschnittsverdienst beträgt etwa 100 Euro pro Monat. Topverdiener erreichen über 1000 Euro. Aber das sind nicht viele“, sagt Speidel.

Den Mittelwert der Crowdworking-Verdienste errechnete die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung für 2016 mit 543 Euro pro Monat. Durchschnittlich 1500 Euro verdienten diejenigen, die hauptsächlich von der Internetarbeit lebten – jeweils brutto. Steuern und Sozialabgaben müssen die Beschäftigten selbst entrichten. Denn die Plattformen handeln als Vermittler, nicht als traditionelle Arbeitgeber, die einen Teil der Sozialversicherungskosten übernähmen.

Viele Crowdworker leben von anderen Geldquellen

Die teilweise erstaunlich niedrigen Verdienste funktionieren nur, weil viele Crowdworker weitere Geldquellen anzapfen. Bei Karin Kneer ist es das Arbeitslosengeld. Bei anderen sind es Kinder- oder Wohngeld und Einkommen aus weiteren Jobs.

Die acht größten einheimischen Firmen, darunter Crowd Guru und Clickworker, versprechen zwar eine Orientierung an „lokalen Lohnstandards“. Als Selbstständige haben die Auftragnehmer aber keine Möglichkeit, den Mindestlohn einzuklagen. Schlecht sieht es auch mit der Sozialversicherung aus. Viele Web-Beschäftigte können sich gerade einmal die Krankenversicherung leisten. Für einen Beitrag zur Rentenversicherung reicht das Einkommen aber oft nicht aus.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund fordert, dass die Crowdworker in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden. Nur: Wer zahlt dann die Arbeitgeberanteile? Der Vermittler, die Auftraggeber oder der Staat? Für Kneer ist klar: „Die Auftraggeber müssten die Honorare erhöhen. Außerdem sollten sie ihren Teil zur Absicherung der Mitarbeiter beitragen. Heute stehlen sie sich aus der Verantwortung als Arbeitgeber davon.“