Berlin. Gesundheits-Start-ups entwickeln Programme, um Mediziner bei der Diagnose zu unterstützen: Auch Patienten will man so schneller helfen.

Wer sich als Erster bewegt, hat verloren. Die Mikado-Regel galt viele Jahre lang auch für die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Doch das ändert sich gerade. „Alle sind aufgewacht und merken, dass das Digitale keine Blase ist“, sagt Markus Müschenich, Gründer und Geschäftsführer des Unternehmensentwicklers „Flying Health“ in Berlin, der digitale Gesundheits-Start-ups zur Marktreife führen will.

Geld ist da: Zum Beispiel aus dem Innovationsfonds der Spitzenverbände des Gesundheitswesens werden jährlich 300 Millionen Euro für neue Projekte abgerufen. Und auch die Ministerien drücken zunehmend aufs Tempo. „Das Gesundheitsministerium hat gelernt, dass das Thema Digitalisierung wertvoll ist“, sagt Müschenich und meint damit das Ende 2015 in Kraft getretene eHealth­-Gesetz, das die Regeln für eine sichere digitale Kommunikation im Gesundheitswesen festschreibt und die Einführung der elektronischen Patientenakte ab 2019 zum Ziel hat.

Videosprechstunde mit dem Patienten

Markus Müschenich , Geschäftsführer von Flying Health.
Markus Müschenich , Geschäftsführer von Flying Health. © joerg Krauthoefer

Einer, der davon profitiert, ist Felix Schirmann vom Gesundheits-Start-up Patientus. Das im Januar 2017 an die Ärzte-Empfehlungsplattform Jameda verkaufte Berliner Unternehmen sieht sich als technischer Dienstleister, der Ärzten die Kommunikation mit ihren Patienten in der Videosprechstunde ermöglicht. Laut eHealth-Gesetz dürfen Ärzte ihre Patienten ab 1. April 2017 über sechs Indikationen per Videochat beraten, darunter Hauterkrankungen und die Kontrolle von Wunden. Einige Hundert Ärzte haben sich auf der Plattform registriert. Wer nach Berliner Ärzten sucht, findet zehn.

Doch keine Regelung im Gesundheitswesen ohne Wenn und Aber: Der Arzt kann mit der Videosprechstunde maximal 800 Euro zusätzlich umsetzen, muss aber mit Kosten für den Videotechnik-Dienst von 400 Euro rechnen. Das bedeutet, dass der Arzt für eine Videosprechstunde, die ca. 14 Euro Honorar bringt, pro Monat zusammen 33 Euro zusätzlichen Umsatz machen kann. Der Anreiz, einem Patienten die Videosprechstunde anzubieten, ist damit gesenkt worden.

Unternehmen in der Schweiz bot 6,2 Millionen Videosprechstungen an

Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick in die Schweiz: Dort hat der Dienstleister Medgate seit dem Jahr 2000 insgesamt 6,2 Millionen Videosprechstunden angeboten. Pro Tag werden bis zu 5000 Patienten beraten. „In Deutschland hinken wir zehn Jahre hinterher“, sagt Felix Schirmann.

Dabei wollen die Kassen, dass ihre Versicherten möglichst wenig Kosten produzieren und dass zum Beispiel Diabetiker gut eingestellt sind oder bei Schwangeren frühzeitig das Risiko einer Frühgeburt erkannt wird. Kassen wollen auch, dass Migränepatienten nicht Unmengen von Medikamenten in sich reinschütten, sondern Migräne mit einer App behandeln. „Kassen wollen zunehmend vom Payer zum Player werden“, sagt Müschenich.

„Die Ärzteschaft hat nicht verstanden, dass digitale Werkzeuge zu ernsthaften Wettbewerbern werden“, sagt Müschenich. Eine Diabetes-App wie mySugr, die eine Million Downloads hat und Hunderttausende tägliche Nutzer, verfügt laut Müschenich über 40 Millionen Datenpunkte im Monat und damit eine digitale Erfahrung, die zusammen mit etwas künstlicher Intelligenz deutlich höher sein dürfte, als die eines Diabetologen, der 1000 oder 2000 Patienten im Quartal hat. „Hinter einer solchen App steckt eine ganz andere Kraft“, sagt der Start-up-Entwickler.

App diagnostiziert Herzrhythmusstörungen

Ein anderes Beispiel ist die zertifizierte App „Preventicus“. Sie diagnostiziert Herzrhythmusstörungen. Wenn bei einem Patienten der Herzschlag stolpert, öffnet er die App, legt die Handy-Kamera auf die Fingerkuppe und erstellt so eine Herzrhythmus-Diagnose. Diese App hilft anders als ein Arzt. „Denn nachts um elf auf dem Sofa ist kein Arzt verfügbar. Und wenn der Patient ins Krankenhaus fährt, ist die Rhythmusstörung vorbei“, erklärt Müschenich.

Vorhofflimmern kann die Bildung von Blutgerinnseln begünstigen, die in letzter Konsequenz zum Schlaganfall führen. Mit der App wurden mehr als 300.000 Herzrhythmusmessungen vorgenommen. „Derzeit haben wir 23.000 aktive Dauernutzer“, sagt Geschäftsführer Thomas Huebner.

Die Kassen setzen nun große Hoffnung in die Einführung der elektronischen Gesundheitsakte, die möglichst viele Gesundheitsdaten bündeln soll. „Es gilt nun, die in großer Zahl vorhandenen Daten zu vernetzen, zu bündeln und sie den Patienten in Form einer elektronischen Gesundheitsakte zur Verfügung zu stellen“, sagt Susanne Hertzer, TK-Chefin in Berlin und Brandenburg. „Entscheidend für deren Erfolg ist die Akzeptanz durch die Versicherten.“ Die TK will die Akte in Partnerschaft mit IBM Deutschland im kommenden Jahr anbieten.