Wolfsburg/Berlin. Die US-Justiz belässt es im Abgasskandal nicht bei Milliardenstrafen. Sie geht gezielt gegen mehrere ehemalige VW-Führungskräfte vor.

Der Wind hat sich gedreht – und er weht Volkswagen eisig entgegen. Vorbei die Zeit, als die Abwicklung des Abgasskandals nur eine Frage des Geldes schien. Jetzt, da der weltgrößte Autobauer mehr als 20 Milliarden Dollar in den USA zahlen wird, wird die komplette Aufklärung des Betruges eine Frage der Ehre für die US-Behörden.

Erst die Festnahme von Ex-VW-Manager Oliver Schmidt durch Beamte der Bundespolizei FBI. Dann die Anklagen gegen fünf weitere ehemalige Führungskräfte. Und nun die Frage: Haben Ex-Konzernchef Martin Winterkorn und der aktuelle VW-Markenvorstand Herbert Diess womöglich doch vor September 2015 von der Betrugssoftware gewusst, die in elf Millionen Fahrzeuge eingebaut wurde – mit dem Wissen, dass die Technik auf dem Prüfstand geringere Abgasmengen vortäuschte als im Straßenbetrieb in die Luft geblasen wurden?

Was geschah am 27. Juli 2015?

Bis heute gibt es keinen bekannten Beweis, der Winterkorn oder Diess belastet. Aber es gibt einen konkreten Hinweis: Am 27. Juli 2015 sprachen VW-Mitarbeiter am Rande eines regelmäßig stattfindenden Treffens in Wolfsburg über Schadens- und Produktthemen – und dabei auch über das Diesel-Pro­blem.

Martin Winterkorn (l.) und Herbert Diess bei der 66. Internationalen Automobil Ausstellung
Martin Winterkorn (l.) und Herbert Diess bei der 66. Internationalen Automobil Ausstellung © imago/Eibner | imago stock&people

Winterkorn und Diess waren bei dieser Runde dabei. VW bestätigte dies im März 2016. „Konkrete Details dieser Besprechung sind derzeit noch nicht rekonstruiert“, hieß es damals. Es sei „insbesondere nicht geklärt, ob zwischen den Beteiligten bereits zu diesem Zeitpunkt ein Verständnis davon gegeben war, dass die Softwareveränderung gegen US-amerikanische Umweltvorschriften verstieß“.

Bis heute hält der Konzern an dieser Sprachregelung fest. Was wer damals gesagt oder gehört hat, ist bis heute unklar.

„Keine Person steht über dem Gesetz“

Wie dünn die Luft für hohe VW-Funktionäre in den USA geworden ist, zeigte sich am Mittwochabend. Der Auftritt von US-Justizministerin Loretta Lynch und eines ganzen Schwarms hochrangiger Ermittler belegte: Der Grundsatz „Too big to jail“, der Einzelpersonen ungeschoren ließ, wenn nach Gesetzesverstößen genug Milliarden von Konzernen oder Banken flossen – dieser Grundsatz ist im VW-Skandal außer Kraft.

„Dieser Fall ist ein großartiges Beispiel für die Tatsache, dass kein Konzern zu groß, kein Konzern zu global ist, keine Person über dem Gesetz steht“, sagte FBI-Vize Andrew McCabe. Ministerin Lynch sprach von „einem Verbrechen“ und fügte hinzu: „Wir werden die Verantwortlichen für diese Verschwörung weiter verfolgen.“

Mit Kronzeugen an die großen Fische

Vom Ernst dieser Worte ist der Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer überzeugt: „Die Amerikaner werden nicht lockerlassen und mit ihrem Kronzeugensystem hart an der weiteren Aufklärung der Dinge arbeiten.“ Wenn nachgewiesen werden könne, „dass Winterkorn frühzeitig vom Betrug wusste und eine schnelle Aufklärung behinderte“, werde es „äußerst ungemütlich“ für ihn – und „riskant“ für den Konzern.

Dann hätte VW „schlechte Karten bei den Aktionärsklagen“; es drohten „nochmals zweistellige Milliardenleistungen“. Dudenhöffer sagte: „Durch die Kronzeugenlösungen kommt man an die großen Fische, und die Kleinen kommen relativ ungeschoren davon.“

Die US-Behörden fahnden nach fünf Männern. Der Vorwurf: gezielter Betrug sowie Täuschung von Aufsichtsbehörden und Öffentlichkeit.

Ex-Vorstandsmitglied Neußer angeklagt

Heinz-Jakob Neußer saß von Juli 2013 bis September 2015 als Leiter des Geschäftsbereichs Entwicklung im VW-Vorstand. Beurlaubt wurde Neußer im September 2015. Jens Hadler leitete von Mai 2007 bis März 2011 die Motorenentwicklung bei VW. Richard Dorenkamp war von 2003 bis Dezember 2013 Chef der VW-Motorenentwicklung.

Heinz-Jakob Neußer bei der IAA 2015. Er saß von Juli 2013 bis September 2015 im Vorstand des Volkswagen-Konzerns.
Heinz-Jakob Neußer bei der IAA 2015. Er saß von Juli 2013 bis September 2015 im Vorstand des Volkswagen-Konzerns. © imago/Future Image | imago stock&people

Bernd Gottweis lenkte als Supervisor von 2007 bis Oktober 2014 das Qualitätsmanagement und die Produktsicherheit. Er galt als Winterkorns Feuerwehrmann für heikle Fälle, wurde hausintern – in Anlehnung an einen legendären Brandbekämpfer – „Red Adair von VW“ genannt. Jürgen Peter war von März 2015 bis Juli 2015 einer der Verbindungsmänner des Konzerns zu den US-Regulierungsbehörden.

Ex-VW-Manager droht faktisch lebenslange Haftstrafe

Oliver Schmidt, der Sechste im Visier der US-Ermittler, wurde am Donnerstag dem Haftrichter vorgeführt. Er hatte gemacht, wovon Juristen gerade Ex-VW-Größen abraten: Urlaub in den USA. Im Sonnenstaat Florida war Schmidt am 7. Januar festgenommen worden.

Dem früheren Volkswagen-Manager drohen nach Angaben des US-Justizministeriums im Abgasskandal bis zu 169 Jahre Haft. „Faktisch sieht er sich mit lebenslangem Gefängnis konfrontiert“, erklärte das Ministerium am Donnerstag. Insgesamt gebe es elf Anklagepunkte. Am Donnerstag entschied der zuständige Richter William Turnoff, der Beschuldigte könne wegen hoher Fluchtgefahr nicht gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt werden. Seine Anwälte wollten gegen die Entscheidung Einspruch erheben.

Auch Fiat Chrysler unter Betrugsverdacht

Unterdessen ist die US-Umweltschutzbehörde EPA einem weiteren Betrugsverdacht auf der Spur: Fiat Chrysler soll in 104.000 Dieselfahrzeuge eine Software eingebaut haben, die zu unerlaubten Schadstoffausstößen bei Lastwagen und Geländewagen führte. (mit rtr)