Berlin. Die Deutsche Umwelthilfe kritisiert die Bunderegierung dafür, dass sie Vergiftungen in Kauf nimmt. Der Grund sind hohe Stickstoffwerte.

Wegen des hohen Stickstoffausstoßes moderner Diesel-Pkw mit Euro-6-Norm geraten Politik und Automobilindustrie unter Druck. Die SPD fordert unangekündigte Abgastests im gesamten Bundesgebiet. Die Deutsche Umwelthilfe wirft der Bundesregierung vor, Erkrankungen und Vergiftungen von Menschen billigend in Kauf zu nehmen. Die Aufregung entzündet sich an einer Studie des ICCT – jener unabhängigen Forschungsorganisation, die 2015 maßgeblich an der Enthüllung des VW-Abgas-Skandals beteiligt war.

Die neue ICCT-Untersuchung zeigt: Diesel-Pkw, die der neuesten Schadstoffklasse Euro 6 entsprechen, sind doppelt so schmutzig wie Lkw und Busse mit der gleichen Norm. Lastwagen gaben im Schnitt 210 Milligramm Stickoxide (NOx) ab, Pkw rund 500 Milligramm – jeweils pro gefahrenem Kilometer. Die höchsten Stickstoffausstöße in einer Testtabelle zeigen zwei Versionen des Renault Kadjar, ein Suzuki Vitara und ein Dacia Sandero.

Lkw werden im Alltag getestet – Pkw im Labor

Grund für die Schadstoff-Schere zwischen Lkw und Pkw seien die Prüfmethoden, sagt ICCT-Chef Peter Mock: „Lkw und Busse werden unter realen Bedingungen getestet – im Verkehr, nach dem Zufallsprinzip.“ Pkw-Tests haben Hersteller selbst in der Hand. „Sie wählen Fahrzeuge aus und testen diese dann auf dem Prüfstand.“

Die SPD fordert umgehende Konsequenzen aus der ICCT-Studie. „Die Ergebnisse zeigen, dass wir den Herstellern von Dieselfahrzeugen mehr auf die Finger schauen müssen“, sagte der Vize der SPD-Bundestagsfraktion, Sören Bartol, unserer Redaktion. „Wir brauchen flächendeckende Abgastests, mit denen unangekündigt Fahrzeuge deutschlandweit im realen Verkehr getestet werden.“ Diese sollen unabhängig von den privaten Prüforganisationen laufen und staatlich organisiert werden. „Dazu braucht es mehr Testgeräte, als bisher beim Kraftfahrt-Bundesamt offenbar dafür vorhanden sind“, ergänzte Bartol.

Deutsche Umwelthilfe kritisiert Autoindustrie

Warum die Messung der Abgase bei Lastwagen im Alltagsbetrieb erfolgt, bei Pkw aber immer noch unter Laborbedingungen – diese Frage erhitzt nun einige Gemüter. Etwa das von Jürgen Resch. Der Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH) sieht den Schwarzen Peter bei der Autoindustrie. Die habe bei Pkw länger und intensiver darum gekämpft, reale Messungen zu verhindern. Im Ergebnis habe es unterschiedliche Prüfvorschriften für beide Fahrzeugklassen gegeben. „Die rechtlichen Voraussetzungen sind bei Pkw und Lkw anders“, sagt Resch.

Er wirft den Bundesministerien für Umwelt und Verkehr vor, lange von den hohen Schadstoffausstößen gewusst und nichts unternommen zu haben. „Die Behörden haben stillschweigend akzeptiert, dass Menschen vergiftet wurden“, sagt Resch. Stickoxide sind gesundheitsschädlich. Sie können Atemwegserkrankungen und Allergien auslösen.

Vertrauen in Technik müsse gestärkt werden

Ein Sprecher des Bundesverkehrsministeriums wollte die Ergebnisse der Stickstoff-Studie nicht kommentieren. Die Messdaten würden dem Ministerium und auch dem Kraftfahrt-Bundesamt nicht vorliegen. Die Prüfverfahren würden demnächst verbessert, sagte der Sprecher. Die EU will ab September Straßentests auch bei Pkw vorschreiben. Danach soll ein neuer RDE-Richtwert gelten. RDE steht für Real Driving Emission – den tatsächlichen Schadstoffausstoß.

Der Automobilclub von Deutschland (AvD) heißt ihn willkommen. „Wir wünschen uns, dass die Messbedingungen für die Abgaswerte bei Pkw schnellstmöglich so gestaltet werden, dass sie für den Verbraucher transparenter sind und vor allem auch in der eigenen Fahrpraxis erreicht werden können“, sagte AvD-Generalsekretär Matthias Braun unserer Redaktion. Das Vertrauen in eine funktionierende Technik müsse gestärkt werden. Bessere Werte seien ja kein Problem. Braun: „Die Abgasreinigung in Kfz nach Euro-6-Norm ist durchaus dazu geeignet, Schadstoffbelastungen der Atemluft deutlich zu verringern.“

Autoexperte Dudenhöffer: „Trotzdem schaut man seit Jahren einfach weg.“

Dass der tatsächliche Stickoxid-Ausstoß der neuesten Diesel-Pkw „weit abseits der theoretischen Grenzwerte“ liege, sei weithin bekannt, sagt der Automobilexperte Ferdinand Dudenhöffer: „Das weiß die Kanzlerin genauso gut wie der Bundesverkehrsminister und die EU-Kommission. Trotzdem schaut man seit Jahren einfach weg.“ Stillschweigend hätten die Verantwortlichen „zu hohe und gesundheitsgefährdende Stickoxid-Werte in deutschen Großstädten akzeptiert“, kritisiert Dudenhöffer.

Der Verband der Automobilindus­trie (VDA) geht auf Distanz zur Schadstoff-Studie. „Es drängt sich der Eindruck auf, dass ICCT die Fortschritte der Dieselentwicklung nicht zur Kenntnis nehmen will“, heißt es in einer Erklärung. Es gebe Modelle, die „nahe am künftigen strengen RDE-Wert liegen oder ihn sogar unterschreiten“.