Berlin. Vor 20 Jahren startete der Neue Markt. Er endete für viele im Desaster. Die Deutsche Börse plant im Frühjahr einen zweiten Versuch.

Am Neuen Markt verbrannten sich große und kleine Anleger vor 20 Jahren mächtig die Finger. Im kommenden Jahr will die Deutsche Börse wieder ein Segment für kleine und mittlere Unternehmen starten. Alte Fehler will die Börse dabei vermeiden.

Viele der Firmen, die einst als Wachstumsträger galten, sind in Vergessenheit geraten. Mal wurden sie als grandiose Vorreiter des Internetzeitalters gehandelt wie etwa Pixelpark. Mal wollten sie wie Mobilcom mit Billigangeboten der Deutschen Telekom Konkurrenz machen, mal wie EM.TV den Medienmarkt aufmischen. In der kurzen Lebenszeit des Börsensegments Neuer Markt schien der Traum real zu werden, aus dem Nichts durch clevere Technologien und Geschäftsmodelle Milliardenwerte zu schaffen. Es begann vor fast 20 Jahren, im März 1997.

In kurzer Zeit drängten immer mehr junge Unternehmen an die Börse. Waren es zwischen 1987 und 1997 gerade einmal 16 Firmen, gab es in den drei folgenden Jahren 339 Erstnotizen. „Es war eine Art Goldrausch“, erinnert sich ein Börsianer. Die Tragfähigkeit der Geschäftsmodelle wurde praktisch nicht kontrolliert, die Wachstumsfantasien der Manager kaum geprüft. „Manche Firma bestand nur aus zwei Leuten, hatte kein operatives Geschäft und niemand wusste, was sie eigentlich machen“, sagt der Experte.

Anleger kauften die Wertpapiere blind

Die Aktienkurse stiegen trotz der Unwägbarkeiten rasant. Immer mehr Anleger kauften die Wertpapiere blind. Gewinne von mehreren Hundert Prozent gegenüber dem Ausgabekurs waren nicht selten. Beim Rekordstand im Jahr 2000 kamen die 339 Unternehmen des Neuen Marktes zusammen auf einen Wert von 234 Milliarden Euro. „Die Leute haben so viel Geld eingesetzt, dass sich eine Blase bilden musste“, erläutert Franz-Josef Leven vom Deutschen Aktieninstitut rückblickend. Die Zahl der Aktienbesitzer in Deutschland hat sich in dieser Phase verdoppelt. Fast jeder Sechste zockte damals mit.

„Übersehen wurde die Spekulationswucht der Finanzmärkte“, sagt Prof. Rudolf Hickel über den Crash des Neuen Markts.
„Übersehen wurde die Spekulationswucht der Finanzmärkte“, sagt Prof. Rudolf Hickel über den Crash des Neuen Markts. © imago/Ulli Winkler | imago stock&people

Das erste Alarmzeichen gab es nur zwei Monate nach dem Höchststand. Mit Gigabell musste das Börsensegment die erste Insolvenz des Neuen Marktes verkraften. Danach ging es bis zum Ende des Neuen Marktes steil bergab. Rund 200 Milliarden Euro verbrannten Anleger in dieser Zeit. Das Desaster hatte mehrere Gründe. Es mangelte vielen Firmen an einem nachhaltigen Konzept. Dazu fehlte die Kontrolle der Prognosen. Unerfahrene wie professionelle Anleger erfasste zudem die Gier nach schnellen Gewinnen. Und die Strukturen des Neuen Marktes ermöglichten kriminelle Machenschaften.

Insidergeschäfte und Luftbuchungen

Die Liste der nachgewiesenen oder vermuteten Verfehlungen ist beeindruckend lang. Einer der Vorstände musste wegen gewerbsmäßigen Betrugs, Bilanzfälschung und Insiderhandel für sieben Jahre ins Gefängnis, Thomas Haffa, Chef der einstigen Vorzeigefirma EM.TV, kam mit einer Geldstrafe davon. Immer wieder kamen Insidergeschäfte und Luftbuchungen für die Bilanz ans Licht. Das löste neben dem Kurssturz am Ende auch einen bis heute anhaltenden Vertrauensverlust in den Aktienmarkt aus. „Diese Skepsis geben Eltern oft an ihre Kinder weiter“, bedauert der Sprecher der Deutschen Börse, Patrick Kalbhenn. Das Finanzwissen müsse im Schulunterricht verbessert werden.

Der Boom an der Börse hatte aber auch eine tiefere Ursache, den Glauben an eine stetig wachsende Wirtschaft ohne Inflation. „Damals herrschte eine extrem optimistische Ökonomiesicht vor“, sagt der Bremer Ökonom Rudolf Hickel. Wie beim Beginn der Weltwirtschaftskrise vor fast 100 Jahren habe die Illusion zugenommen, über Aktien an den Gewinnen der Wirtschaft teilhaben zu können. Das sieht Hickel als schweren Fehler an. „Übersehen wurde die für derartige Phasen neuer technologischer Schübe auftretende Spekulationswucht der Finanzmärkte“, stellt er fest. Die daraus entstehende Blase sei folgerichtig geplatzt. Die reale Produktion rückte wieder in den Mittelpunkt.

Schärfere Regeln für den Zugang zum Markt

Im kommenden März startet die Deutsche Börse wieder ein neues Börsen­segment. Allerdings sollen sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. „Die Unternehmen brauchen ein Geschäftsmodell, das sich bereits bewährt hat“, betont Kalbhenn. Drei von fünf Kernbedingungen muss jede der Firmen erfüllen. Dazu zählen ein Mindestumsatz von zehn Millionen Euro, die Beschäftigung von 20 Mitarbeitern oder ein positives Eigenkapital. „Das wird dafür sorgen, dass keine Fantasiewerte an die Börse gehen“, hofft Leven. Der deutschen Wirtschaft soll damit der Zugang zu Kapital erleichtert werden. „Das Segment ermöglicht kleinen und mittleren Unternehmen, ins Blickfeld internationaler Investoren zu geraten“, wirbt Kalbhenn um Vertrauen.

Einen Namen für das neue Segment haben die Frankfurter noch nicht bekannt gegeben. In einem Wettbewerb reichten Teilnehmer über 500 Vorschläge ein. Bei den Favoriten klärt die Deutsche Börse nun die internationalen Markenrechte. Rechtzeitig vor dem Start soll die Prüfung abgeschlossen und der Sieger gekürt sein. Ein Name wird es laut Leven sicher nicht sein. „Das ist kein Neuer Markt 2.0.“