Berlin. Gewalt erleben vielen Beschäftigte bei ihrer Arbeit. Im Einzelhandel wurden innerhalb eines Jahres mehr als 1100 Mitarbeiter verletzt.

Der Zugbegleiter wollte auf einer Fahrt durch das Saarland Anfang Dezember von drei Fahrgästen nur die Tickets sehen. Einer der Passagiere zog daraufhin eine Pistole aus der Lederjacke. „Das ist unsere Fahrkarte“, sagte der Mann. Der Bahnangestellte kam mit dem Schrecken, die Täter bisher ohne Strafe davon.

Die Gewalt gegen das Personal in Bahnhöfen und Zügen nimmt zu. 1800 Übergriffe zählte das Unternehmen im vergangenen Jahr, 20 Prozent mehr als 2014. Inzwischen werden die besonders gefährdeten Beschäftigten mit Pfefferspray bewaffnet. Doch im Zweifel sollen sie sich erst einmal in Sicherheit bringen. „Es muss niemand den Helden spielen“, erläutert der Sprecher der Bahngewerkschaft EVG, Uwe Reitz. Auf notorisch gefährlichen Strecken sind mittlerweile regelmäßig Sicherheitsleute an Bord.

Auch Patienten rasten aus

Gewalt am Arbeitsplatz erleben viele Beschäftigte. Polizisten und Feuerwehrleute werden bei Einsätzen bedrängt, Patienten rasten in Krankenhäusern aus und gehen auf Ärzte und Schwestern los, Ladendiebe verletzen Verkäuferinnen, Vermittler im Jobcenter müssen sich vor wütenden Arbeitslosen in Acht nehmen. Allein bei Diebstählen und Überfällen wurden von Juni 2014 bis Juni 2015 im Handel mehr als 1100 Beschäftigte verletzt.

Das ergab eine Studie der Deutschen Hochschule der Polizei und der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW). Deren Kollegen aus dem Gesundheitswesen befragten knapp 2000 Beschäftigte in Kliniken und Pflegeeinrichtungen. 56 Prozent berichteten von Attacken, 78 Prozent waren verbaler Gewalt ausgesetzt.

„Kunden sind immer aggressiver geworden“

Auch Lehrer gehören zu den gefährdeten Berufsgruppen. Doch halten Schulleiter dies gerne unter der Decke. Das beobachtet zumindest der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). „Es ist nicht hilfreich, wenn Schulen Gewalt gegen Lehrer unter den Teppich kehren“, kritisiert der DGB-Experte Karsten Schneider. Er sieht auch Mängel bei der Berufsvorbereitung: „Es fehlt in der Lehrerausbildung der Umgang mit Konfliktsituationen.“

Doch wie können Arbeitnehmer sich vor Übergriffen schützen? Das ist vor allem eine Aufgabe der Arbeitgeber. Damit steht es nicht immer gut. „Unternehmen und Behörden müssen akzeptieren, dass Kunden in den vergangenen Jahren immer aggressiver geworden sind“, sagt Matthias Neu, der an der Hochschule Darmstadt regelmäßig einen Kunden-Konfliktmonitor erstellt.

Schulungen zur Deeskalation nötig

Die alle zwei Jahre erstellte Studie belegt ein seit 2004 stetig anwachsendes Aggressionsverhalten. Vor allem müsse mehr für Schulungen zur Deeskalation getan werden. Neu stellt allerdings auch fest, dass die private Wirtschaft zunehmend Präventionsmaßnahmen ergreift. Arbeitnehmer können selbst vor allem durch eine erhöhte Aufmerksamkeit frühzeitig auf potenzielle Gefahren reagieren, auf die Tonlage des Kunden achten, Verständnis zeigen und bei einer Verschärfung einen Kollegen zum Gespräch hinzuziehen.

Gegen geplante Überfälle hilft das allerdings nicht. Im Zweifel geht die eigene Sicherheit vor, rät EVG-Sprecher Reitz. Auf gut Deutsch heißt das: Flüchten ist bei einer Bedrohung erlaubt.

Überfälle sollen ernst genommen werden

Wenn es trotz aller Vorsicht zu einem Übergriff kommt, ist oft nicht geklärt, ab welcher Eskalationsstufe ein Konflikt als Gewalt eingestuft und Strafanzeige erstattet wird. Überfälle ernst zu nehmen spielt zum Beispiel für die spätere Unterstützung durch eine Berufsgenossenschaft eine wichtige Rolle. „Es ist wichtig, dass das Unternehmen einen Überfall meldet“, betont Siegrid Becker von der BGHW. Die Genossenschaft bietet dann eine psychologische Soforthilfe an.

Auch für die medizinische Rehabilitation ist sie zuständig. „Verletzungen müssen nicht immer körperlicher Natur sein, und es ist legitim, nach einem Überfall psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen“, so die Berufsgenossenschaft. Denn ein Gewalterlebnis löst häufig ein Trauma aus, wie Gewerkschafter Karsten Schneider beobachtet. Zudem würden Verfahren allzu oft wegen Geringfügigkeit eingestellt. Schneider: „Das erleben Opfer häufig als zweiten traumatisierenden Schlag.“