Frankfurt/Main. Die Europäische Zentralbank in Frankfurt steht seit ihrer Niedrigzinspolitik in der Kritik. Ein seltener Blick hinter die Kulissen.

Es wird nie geläutet, dabei ist es der einzige Hinweis auf den wahren Sitz der Macht: das Glöckchen auf dem riesigen runden Schreibtisch im 41. Stock der Europäischen Zentralbank (EZB). Wenn Präsident Mario Draghi dort Platz nimmt, schiebt er das Glöckchen gewöhnlich nur zur Seite. Der Italiener hat die imposante Bankenskyline von Frankfurt/Main nur im Rücken.

Sein Blick fällt vielmehr auf eine Digitaluhr mit den Zeiten in New York, Frankfurt und Tokio. Gleichsam als Erinnerung daran, dass die Zeit an den Börsenplätzen der Welt nicht stillsteht. Und dass die Börsen auf die geldpolitischen Entscheidungen, die das Gremium hier in Sitzungen berät, sofort reagieren. Es sind Entscheidungen, die Milliarden verschieben, Anlageträume zerstören oder aufbauen und die jeden Menschen der Eurozone betreffen.

Entscheidungen hinter verschlossenen Türen

Im EZB-Ratssaal werden zuweilen überraschende Entscheidungen getroffen.
Im EZB-Ratssaal werden zuweilen überraschende Entscheidungen getroffen. © Reto Klar | Reto Klar

Der 41. Stock ist das Machtzentrum der EZB. Hier wird alle zwei Wochen um das oberste Ziel der Zentralbank gerungen: Preisstabilität zu gewährleisten und somit den Wert des Euro zu wahren. Die Wege dahin sind allerdings hoch umstritten – und zwar nicht nur in der Öffentlichkeit. Das Gremium tagt hinter verschlossenen Türen, es gibt keine wörtlichen Protokolle. Zu geldpolitischen Entscheidungen gibt Präsident Draghi dann alle sechs Wochen eine Pressekonferenz.

So wie etwa am 10. März 2016, als sich der Rat äußerst überraschend entschied, den Leitzins auf null zu senken. Es war ein Paukenschlag, den so niemand erwartet hatte: Die EZB leiht den Banken umsonst Geld. Seitdem sind die Institution und insbesondere Mario Draghi ständig in der Kritik. Eine Kritik, die auch an den Mitarbeitern nicht spurlos vorübergeht.

Schon der Bau der Zentralbank löste Krawalle aus

Etwa an Gabriel Glöckler: „Ich komme aus Leipzig. Dass ich einmal für eine europäische Zentralbank arbeite, die sich um die gemeinsame europäische Währung kümmert, ist für mich immer noch ein großes Geschenk.“ Glöckler hat den sperrigen Titel des Chefberaters in der Generaldirektion Kommunikation. Er hat die schwierige Aufgabe, der Öffentlichkeit eine Institution näherzubringen und ihre Entscheidungen zu erläutern, die für viele nur aus dem Italiener Draghi besteht.

Einem Chef, der nur äußerst selten Interviews gibt, da jedes seiner Worte die Märkte bewegt. Einem Gebäude, bei dem schon der Bau und seine Finanzierung in der Kritik stand und bei dessen Einweihung Frankfurt die schwersten Krawalle seit Jahrzehnten erlebte. Einem Arbeitgeber, der es 19 Regierungen und Öffentlichkeiten recht machen muss. Der Druck der Verantwortung für die Menschen im Euroraum lastet nicht nur auf Präsident Draghi. „Es ist ein Mythos, dass EZB-Präsident Mario Draghi allein und mit einem Federstrich die Geldpolitik bestimmt. Das sind Entscheidungen, die hier lange vorbereitet, geprüft und im EZB-Rat mit Mehrheit getroffen werden müssen.“

Jeder Mitarbeiter kommt aus einem EU-Staat

EZB-Präsident Mario Draghi
EZB-Präsident Mario Draghi © Reto Klar | Reto Klar

An diesen Entscheidungen arbeiten die 2500 Mitarbeiter in dem imposanten Wolkenkratzer, der dem Frankfurter Osten seinen Stempel aufdrückt. Sie kommen überwiegend mit der S-Bahn oder dem Fahrrad, halten auf dem Weg bei der Bäckerei EZB („Erst zum Bäcker“), joggen manchmal in der Mittagspause am Main-Ufer entlang. Den Kopf freibekommen. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie kommen aus einem der 28 EU-Staaten. Sie arbeiten vorwiegen auf Englisch, viele sind vergleichsweise jung. Und trotz des Drucks hoch motiviert: „Wir arbeiten an einem Projekt mit, das europäische Geschichte darstellt. Zusammen sind wir besser“, so drückt es einer aus.

Sie treffen in großen Aufzügen aufeinander, die rasant die 185 Meter nach oben sausen und mit einem Computerterminal von außen bedient werden müssen. Es gibt einen Fitnessraum, einen Arzt, eine Bücherei und zwei Kantinen, in denen es je nach Vorliebe schon um 12 Uhr, aber auch noch um 15 Uhr warmes Essen gibt. Dann kommen vor allem gerne die Südeuropäer.

Käsebrötchen für 1,55 Euro aus dem Automaten

In der Vorhalle im 27. Stock herrscht reger Betrieb. Lactosefreien Joghurt kann man hier für 78 Cent aus dem Automaten ziehen, das Käsebrötchen kostet 1,55 Euro, Kaffee und Wasser gibt es umsonst, den atemberaubenden Blick auch.

Das deutsche Direktoriumsmitglied Sabine Lautenschläger ist immer im Rat dabei. Die Juristin ist die einzige Frau im EZB-Direktorium. Sie nimmt die Kritik, vor allem der deutschen Politik und Öffentlichkeit, sehr ernst. „Ich habe Verständnis für die Sorgen der Sparer, aber wir sind auch in Deutschland nicht nur Sparer. Wir sind auch Arbeitnehmer, Häuslebauer und Unternehmer. Der Arbeitsplatz ist wichtig, um dann sparen zu können“, sagt sie nachdenklich. Doch sie sagt auch: „Und natürlich sollten wir aus der lockeren Geldpolitik aussteigen, sobald sie weniger bringt, als kostet“.

Mit Leibwächtern zur Pressekonferenz

Im Foyer des Gebäudes ist derzeit eine Ausstellung zur Geschichte der Euro-Banknoten zu sehen. Die Schau ist ein Vorgeschmack auf das geplante Besucherzentrum, das die Arbeit der Bank transparenter machen soll. Für die vielen Sicherheitsleute ein Albtraum. Derzeit schützen versenkbare Sperren, Zäune und Kameras das Gelände. Im Inneren gibt es Spezialtüren, durch die man nur mit bestimmten Codes darf und Wachpersonal, das jede liegen gebliebene Jacke sofort untersucht. Nur für den Präsidenten werden die größeren Türen geöffnet, der allerdings kommt mit Leibwächtern zu den Pressekonferenzen auch im Gebäude.

Geld allerdings lagert in der EZB nicht, sondern jeweils in den Tresoren der nationalen Notenbanken. Aber eines passiert in der EZB, das Geld wird entworfen. Das Design der Euro-Banknoten, Sicherheitsmerkmale wie Hologramm, Smaragd-Zahl und die fühlbaren Reliefs entwickeln die Mitarbeiter. John Howes etwa arbeitet in der Generaldirektion an Banknoten und war die vergangenen zwölf Monate mit dem neuen 50-Euro-Schein beschäftigt, der im April 2017 in Umlauf kommt.

Für ihn und seine Kollegen sind die Banknoten das Aushängeschild der EZB. „Ich habe ein gutes Gefühl, wenn ich im Supermarkt an der Kasse stehe und die Banknoten sehe. Jeder Europäer benutzt sie, es ist etwas Einmaliges“, erzählt er sichtlich stolz. Die Euro-Scheine seien „das sichtbarste Signal der europäischen Einheit“.

Milliarden auf Knopfdruck

Die Unterschrift, die auf jeder gültigen Euro-Note prangt, hat Mario Draghi übrigens gleich bei seinem Amtsantritt 2011 abgeben müssen – und einige Anläufe dafür gebraucht.

Das Herzstück aber ist der Marktsaal, der Trading Floor, in der Geldmarktabteilung. Hier werden auf Knopfdruck Milliarden Euro freigegeben. Etwa für das „Quantitative Easing“-Programm. Die Idee dahinter: Die Zentralbanker erhöhen die Geldmenge, indem sie Banken und Investoren in gigantischem Ausmaß Staatsanleihen abkaufen.

Private Handys sind strengstens verboten

Diese Investoren sollen dann möglichst das Geld, das sie von der EZB bekommen, in riskantere Wertpapiere wie Aktien oder Unternehmensanleihen stecken. Oder Firmen Kredite gewähren. Dadurch fließt der Wirtschaft frisches Kapital zu, was schließlich in reale Investitionen und neue Jobs münden soll. Dieses Kalkül führt dazu, dass die EZB monatlich 80 Milliarden Euro in Wertpapierkäufe steckt – auf jeden Fall noch bis Ende März 2017. Dann werden 1,74 Billionen Euro investiert sein, gut eine Billion ist es bereits. Es sind unvorstellbar hohe Summen.

Der Raum, in dem das alles stattfindet, ist dagegen eher profan. Ähnlich einem kleinen Börsensaal, in dem Terminals dominieren, die jede kleinste Veränderung an Werten und Währungen anzeigen. Zwischen Kabeln, Telefonen und Bildschirmen verliert sich ein kleiner Europa-Wimpel. Der Gebrauch von privaten Mobiltelefonen ist hier strengstens untersagt.

„Europäische Institution, die am besten funktioniert“

Cornelia Holthausen ist die stellvertretende Generaldirektorin von „Marketing Operations“. Die hoch spezialisierte Ökonomin hat von ihrem Schreibtisch aus die Bankentürme etwa der Commerzbank oder der Deutschen Bank im Blick. Die Frage, warum es sie trotzdem nicht in die Vorstandsetagen der privaten Banken zieht, beantwortet sie mit einem Lächeln. Sie treibe immer wieder an, „dass das gemeinsame Ziel nicht die Profitmaximierung eines Unternehmens ist, sondern die Preisstabilität für die europäischen Bürger. Das eint uns alle hier.“

Cornelia Holthausen, stellvertretende Generaldirektorin der Geldmarktabteilung
Cornelia Holthausen, stellvertretende Generaldirektorin der Geldmarktabteilung © Reto Klar | Reto Klar

Trotz aller Kritik ist ihr Arbeitgeber ihrer Auffassung nach „die europäische Institution, die am besten funktioniert und am meisten schafft – auch weil sie unabhängig ist“. Kalte Füße, weil man so große Summen verschiebt, ohne dass irgendjemand genau sagen kann, was das genau bewirkt? „Ich sehe keine andere Möglichkeit, das Mandat so zu erfüllen, als wie wir das gerade tun. Man muss auch fragen, was wäre gewesen, wenn wir das nicht täten?“

Blick aus dem Fenster zeigt die Realwirtschaft

Zurück im 41. Stock. Die Aura der Macht ist nach der Sitzung des Rates etwas gewichen. Auf dem Boden einige Kronkorken von Wasserflaschen, eine Zeitung ist liegen geblieben. Das Putzpersonal macht sich vor der Büste des ersten Präsidenten der Zentralbank Wim Duisenberg bereit.

Eine große Treppe führt von den Sitzungssälen zu den Büros von Präsident Draghi und seinem Vize. Wer sie hinuntergeht, blickt aus der Vogelperspektive auf den Osthafen von Frankfurt, auf Schiffe, Container, auf Straßen und Schienen, die zum Hafen führen. Auf die Realwirtschaft. Und um die, das wissen alle hier, geht es am Ende.