Berlin. Absurd: Windräder werden wegen Netzüberlastung gestoppt, während Kohlekraftwerke weiterlaufen. Die Regierung ist schlecht informiert.

Der Wind weht, aber das Rad steht: An windreichen Tagen ist das neuerdings ein häufiges Bild in Norddeutschland. Ganze Windparks werden abgeschaltet, genau dann, wenn sie eigentlich auf vollen Touren produzieren könnten. Der Grund sind nicht etwa Wartungsarbeiten oder technische Probleme – sondern überlastete Stromnetze. Die Anlagen sind schlicht vom Stromnetzbetreiber als Notmaßnahme ausgeknipst worden.

Dokumentiert wird das in einem kürzlich veröffentlichten Papier der Bundesnetzagentur zum Thema Stabilität des Stromnetzes. Die Analyse der Energieaufsichtsbehörde aus Bonn ist Sprengstoff für die Energiewende. Die Netzagentur berichtet, dass die Zahl der Windräder, die wegen Überlastung des Stromnetzes ausgeschaltet werden müssen, jüngst drastisch angestiegen ist. Eine Ursache ist der regional stark konzentrierte Ausbau der Windenergie vor allem im hohen Norden. Zum anderen zeigt sich aber auch, dass das deutsche Stromnetz und die alten Kraftwerke nicht ausreichend flexibel sind, um die hohen Grünstrommengen zu verkraften – und die Bundesregierung auf diese Situation bislang überhaupt nicht vorbereitet ist.

Das Problem eskaliert erst seit 2013

Im Jahr 2015 musste laut dem Netzagentur-Papier die Produktion von Grünstromanlagen von den Netzbetreibern um 4722 Gigawattstunden reduziert werden. Das entspricht etwa der halben Jahresproduktion eines Kernkraftwerks. Und es ist drei Mal so viel wie im Jahr zuvor. 2013 gab es das Pro­blem so gut wie gar nicht.

Die Verbraucher kommt das teuer zu stehen, denn durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) ist geregelt, dass die Windmüller den Strom zum Festpreis ins Netz einspeisen dürfen, egal ob das Netz das gerade verkraftet oder nicht. 2015 mussten die Netzbetreiber die Rekordsumme von knapp 480 Millionen Euro aufbringen, um die Betreiber der Grünstromanlagen für das Ausschalten zu entschädigen – das Geld holen sie sich aber über die Netzentgelte von den Verbrauchern wieder.

Angetrieben wird die Entwicklung natürlich vom Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland, die inzwischen im Jahresschnitt rund ein Drittel der benötigten Elektrizität erzeugen. Im Windland Schleswig-Holstein, dem mit Abstand am stärksten betroffenen Bundesland, hat das Notabschalten inzwischen dramatische Ausmaße angenommen. Die Ökostrom-Produktion des Landes liegt deshalb um 14,4 Prozent niedriger, als sie eigentlich sein könnte. Schleswig-Holstein bietet auch einen Blick in Deutschlands Energiewende-Zukunft, ein 100-Prozent-Ökostrom-Land: 2015 wurde dort erstmals mehr grüner Strom produziert als insgesamt verbraucht.

Dass einige Regionen so weit vorauseilen, verschärft jedoch das Problem noch. Denn die Netze sind an vielen kritischen Stellen auf den geballten Ausbau nicht vorbereitet. Vor allem das Höchstspannungsnetz, die großen Stromautobahnen in Deutschland, sind überlastet. „Vereinfacht gesagt bekommen die Netzbetreiber den Windstrom aus Schleswig-Holstein nicht um Hamburg herumtransportiert“, sagt ein Sprecher des Bundesverbands Windenergie (BWE).

Keiner weiß genau, warum die Kohlekraftwerke durchlaufen

Aber auch weiter im Süden stößt der Windstrom aus dem Norden auf Engpässe. Der Netzausbau nach Süddeutschland, wo besonders viele Atomkraftwerke abgeschaltet werden, kommt kaum voran, auch aufgrund des Widerstands von Bürgerinitiativen und der bayerischen Landesregierung.

Laut dem Höchstspannungsnetzbetreiber Tennet, der auch für Schleswig-Holstein zuständig ist, werden die Pro­bleme in den kommenden Jahren also „eher zunehmen“ – die Phantom-Stromrechnung steigt weiter an.

Doch mit der Formel „zu viel Ökostrom, zu wenig Leitungen“ ist das Problem nicht vollständig beschrieben. Robert Habeck, Schleswig-Holsteins grüner Umweltminister, lenkt den Blick auf eine weitere Ursache: „Strom aus erneuerbaren Energien abzuschalten, statt ihn zu nutzen, ist absurd. Zumal wenn Kohle- und Atomstrom weiter fließen und die Netze verstopfen.“

Tatsächlich stellten Gutachter des Beratungsunternehmens Consentec Anfang des Jahres in einer bislang kaum beachteten Studie fest, dass Habeck Recht hat. In Zeiten hoher Grünstromproduktion und niedrigen Verbrauchs in Deutschland sacken die Preise an der Strombörse zwar in den negativen Bereich. Das heißt, die Betreiber fossiler Kraftwerke müssen für jede Kilowattstunde, die sie ins Netz geben, sogar Geld bezahlen. Und tatsächlich fahren sie zu diesen Zeiten auch die Produktion herunter – allerdings nicht besonders weit. Knapp 30 Gigawatt, das entspricht immerhin einem Drittel des maximalen Strombedarfs in Deutschland, bleiben immer am Netz, egal wie viel Windstrom erzeugt werden kann. Stattdessen werden eben Windparks abgeschaltet.

Erst 2017 wird der Ursache auf den Grund gegangen

Nur ein kleiner Teil dieser Mindestproduktion, so die Gutachter, lasse sich mit den Notwendigkeiten des Stromnetzes erklären. Das sind zum Beispiel Kraftwerke, die bei einem plötzlichen Spannungsabfall sofort Regelleistung zur Verfügung stellen können. Weitere Anlagen müssen angeschaltet bleiben, weil sie neben dem Strom Wärme oder Dampf für die Industrie erzeugen.

Der Rest schaltet allerdings trotz massiver Stromüberschüsse nicht ab, weil die Kraftwerke schlicht zu unflexibel dafür sind – die meisten sind Kern- und Braunkohlekraftwerke. Technisch ist es für sie gar nicht oder nur unter teurem Verschleiß der Anlage möglich, ganz herunterzufahren. Welche Anlagen das sind und wie die Kalkulation der Betreiber aussieht, konnten die Studienautoren aber nicht herausfinden. Bislang gilt: Das sind Geschäftsgeheimnisse.

Die fehlende Flexibilität der konventionellen Kraftwerke ist also ein Schlüsselproblem der Energiewende. Doch auch die Bundesregierung weiß darüber kaum etwas, wie eine Anfrage der grünen Bundestagsfraktion jüngst ergab. Darin heißt es lapidar, die Kraftwerksbetreiber hätten „unterschiedliche Beweggründe“, ihre Anlagen nicht vom Netz zu nehmen. Genauere Daten? Fehlanzeige. „Bislang liegen der Bundesregierung entsprechende Informationen (...) nicht vor“, heißt es in der Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums. Die Bundesnetzagentur arbeite an einem „ersten Bericht“ zu dem Thema. Er soll am 31. März 2017 erscheinen. Das wäre fast auf den Tag genau der 17. Jahrestag der Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes – und sechs Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima.