Berlin/Braunschweig. Bei VW steht die Produktion des Hauptmodells Golf. Zehntausende Arbeiter sind betroffen. Die Folgen sind dramatisch.

Volkswagen kämpft noch mit der Dieselaffäre – da hat der größte europäische Autohersteller ein neues, in Deutschland in der Größe bisher beispielloses Problem: Weil zwei Zulieferer sich weigern, Teile zu liefern, werden wohl mehrere Zehntausend Beschäftigte in Zwangsurlaub geschickt.

Was ist los bei VW?

Zwei Firmen aus Sachsen, Car Trim und ES Automobilguss, beliefern VW nicht mehr. Car Trim produziert Sitzbezugteile. Weil die in der Produktion fehlen, stehen die Bänder im Werk Emden seit Donnerstag still. Rund 8000 Beschäftigte wurden nach Hause geschickt. In Emden wird der Passat gebaut.

ES Automobilguss stellt Getriebeteile her. Die fehlen jetzt im VW-Werk Kassel. Weil dort nicht mehr produziert werden kann, ist auch die Golf-Fertigung in Wolfsburg und Zwickau lahmgelegt. Und auch an den Standorten Braunschweig und Salzgitter, die Teile für die Autos zuliefern, stehen die Bänder. Allein in Wolfsburg sind mehr als 10.000 Beschäftigte betroffen. Unklar ist, ob der Stillstand in den Werken Folgen für andere VW-Zulieferer hat.

Worum geht es?

Die Gründe für den Streit sind schwer zu durchschauen, weil sich beide Seiten gegenseitig angreifen. Für die Krise bei VW und die dadurch entstandene Kurzarbeit sei man nicht verantwortlich, teilte Alexander Gerstung mit, Geschäftsführer der ES Automobilguss. „VW zwingt uns zu diesem Vorgehen, um unsere eigenen Mitarbeiter in Niedersachsen und Sachsen zu schützen und letztlich den Fortbestand des Unternehmens zu sichern.“ Die jetzige Situation sei das Resultat einer frist- und grundlosen Kündigung von Aufträgen. Es soll insgesamt um einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag gehen. Auch Volkswagen nannte einen Streit über einen Entwicklungs- und Liefervertrag als Grund. Car Trim gehört seit November zur Prevent-Gruppe, ES Automobilguss seit April.

Wer ist Prevent?

Die Prevent-Gruppe hat ihren Sitz in Slowenien, die deutsche Tochter in Wolfsburg. Zum Unternehmen gehören auch Firmen, die mit Yachten, Möbeln und Textilien Geschäfte machen. Aus der Möbelbranche gibt es scharfe Kritik. Die Gruppe übernehme deutsche Hersteller und halte sich danach nicht an Verträge, erfuhr diese Zeitung. Deutsche Standorte würden geschlossen, Produktion nach Slowenien verlagert.

Müssen sich Kunden, die einen Golf oder Passat bestellt haben, auf längere Wartezeiten einrichten?

Nach Angaben von VW sollen alle bisher fest zugesagten Liefertermine eingehalten werden. Ob das erfüllt wird, hängt allerdings davon ab, wie lange der Konflikt die Produktion noch lähmt. Ein Ende ist derzeit noch nicht in Sicht.

Was tut VW, um das Problem zu lösen?

Der Konzern geht vor Gericht gegen die beiden Firmen vor. Vor dem Landgericht Braunschweig erwirkten die Wolfsburger zwei einstweilige Verfügungen. Danach drohen bis zu 250.000 Euro Ordnungsgeld, sollten die Firmen nicht liefern. Auch könnten die Geschäftsführer in Ordnungshaft genommen werden. Im Zweifel will VW die Teile bei den beiden Firmen beschlagnahmen lassen.

Warum ist der Konflikt derart eskaliert?

Helmut Becker, Leiter des Instituts für Wirtschaftsanalyse und Kommunikation, der in der Vergangenheit die Strategische Konzernplanung von BMW leitete, hält den Streit für „höchst ungewöhnlich“. Normalerweise sei es „Selbstmord für einen Zulieferer, wenn er die Lieferung stoppt, bis die Bänder beim Hersteller stillstehen“. Bekannt ist lediglich ein ähnlicher Fall, der allerdings auch schon fast 20 Jahre her ist: 1998 stand das Ford-Werk in Köln still, nachdem der Türschlosshersteller Kiekert die Lieferung wegen eines Vertragsstreits mit Ford einstellte. Das sei Kiekert aber nicht gut bekommen, so Becker. Zwei Jahre später übernahm ein Finanzinvestor das angeschlagene Unternehmen.

Möglicherweise, sagt Becker, stünden die beiden Zulieferer der Prevent-Gruppe derart mit dem Rücken zur Wand, dass sie keinen anderer Ausweg mehr gesehen hätten. „Und auf der Seite von Volkswagen ist die Bereitschaft, einen Konflikt auf die Spitze zu treiben, unter Umständen im Moment höher als gewöhnlich.“ Die Werke könnten auch wegen des Dieselskandals nicht voll ausgelastet sein. Eine Pause, die vom Staat sogar über das Kurzarbeitergeld mitfinanziert wird, wäre in einem solchen Moment keine Katastrophe.

Wie kann es sein, dass ein Zulieferer einen Großkonzern in Schwierigkeiten bringen kann?

Dem Autoexperten Becker zufolge ist es ungewöhnlich, dass Volkswagen nicht auf mehrere Zulieferer zurückgreifen kann. Das sei zwar etwas teurer, weil die Produktionskosten der Hersteller mit niedrigeren Stückzahlen etwas steigen, biete aber eine Versicherung und senke das Druckpotenzial der Zulieferer. In den vergangenen Jahren hat sich das sogenannte Single Sourcing immer mehr durchgesetzt, also der Teilebezug von einer einzigen Quelle.