Berlin. Belastung und Schadstoffe aus der Kohlewirtschaft führen zu vielen Todesfällen, behaupten Umweltschützer. Die Studie ist umstritten.

Über die Nutzung von Kohle und über den Ausstieg aus den fossilen Energien entscheidet jedes Land in Europa für sich – doch die Bewohner des Kontinents leben unter derselben Staubglocke und atmen dieselbe Luft, entgegnen Umweltschützer. Feinstaubpartikel, Quecksilber, Blei oder die Folgen der klimaschädlichen Treibhausgase würden schließlich keine Ländergrenzen kennen. Ein europaweiter Verbund von Nichtregierungsorganisationen hat nun in einer Studie versucht, grenzüberschreitende Gesundheitsfolgen der europäischen Kohlemeiler in Zahlen zu fassen. Das Fazit: Rechnerisch seien die Emissionen aller Kraftwerke in Europa für 22.900 vorzeitige Todesfälle, Zehntausende Herz- und Lungenkrankheitsfälle sowie für bis zu 62,3 Milliarden Euro Gesundheitskosten verantwortlich.

Verfasser der Studie, die den Titel „Europe’s Dark Cloud“ trägt, sind das Bündnis Health and Environment Alliance (HEAL), die Umweltstiftung WWF, das Climate Action Network (CAN) und der britische Thinktank Sandbag. Die Analysten werteten die Emissionsdaten von 257 der insgesamt 280 Kohlekraftwerke in Europa aus. Danach sei Polen der EU-Staat, der Europa mit „schmutzigen Kohlekraftwerken“ am meisten belaste. Dessen Kraftwerke, so die Autoren, würden jährlich europaweit 5830 vorzeitige Todesfälle verursachen. Es folgen Deutschland mit 4350 Fällen sowie Großbritannien (2860), Rumänien (2170) und Bulgarien (1570). Die fünf EU-Staaten, die am meisten unter den gesundheitlichen Folgen der Emissionen litten, seien Deutschland (3630 vorzeitige Todesfälle durch eigene und fremde Kraftwerke), Großbritannien (2100), Polen (1860), Italien (1610) und Frankreich (1380).

„Kein EU-Land kann das Problem der Luftverschmutzung im Alleingang lösen“

Wenn die EU-Staaten den Kontinent und sich selbst schädigten, sei dies ein Plädoyer für einen europaweiten Kohleausstieg, schlussfolgern die Autoren. „Denn kein EU-Land wird das Problem der Luftverschmutzung im Alleingang lösen können“, sagt Julia Huscher, Referentin für Energie und Gesundheit von der Health and Environment Alliance (HEAL). Jedes einzelne geschlossene Kohlekraftwerk aber würde eine deutliche Verbesserung für die gesundheitliche Situation der Anwohner, aber auch für Menschen in der weiteren Umgebung bedeuten.

So rechnet die Studie vor, dass ein deutscher Kohleausstieg in der Bundesrepublik jedes Jahr mehr als 1860 vorzeitige Todesfälle verhindern könnte, im Ausland sogar 2490. Eine Schließung aller EU-Kohlekraftwerke würde jährlich 22.900 vorzeitige Todesfälle verhindern.

Unsicherheiten in der Bewertung der gesundheitlichen Folgen

Als Beleg für den berechneten Verlust an menschlicher Lebenszeit führen die Umweltschützer unter anderem Erkenntnisse großer epidemiologischer Studien an. Die Ergebnisse der Untersuchung beruhten auf dem aktuellen Wissensstand zu den Auswirkungen von Feinstaub, lässt sich Prof. Dr. Annette Peters, Leiterin am Helmholtz-Zentrum München, Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt, zitieren. Die Zahlen würden in korrekter Weise aufzeigen, wie groß die Auswirkungen der Kraftwerksemissionen auf die Sterblichkeit seien.

Dennoch gibt es in der Bewertung der gesundheitlichen Folgen der Emissionen aus Kohlekraftwerken viele Unsicherheiten. Für die genauen Gesundheitsfolgen mancher Schadstoffe fehlen langfristige Studien, Grenzwerte sind nicht immer zu bestimmen. Greenpeace hatte schon 2013 eine Studie der Health and Environment Alliance (HEAL) vorgestellt. Diese hatte die Emissionen der deutschen Kohlekraftwerke mit 3000 vorzeitigen Todesfällen pro Jahr in Verbindung gebracht. Unternehmen der Energiewirtschaft widersprachen der Untersuchung damals heftig.

Deutsche Kraftwerke auf der Liste der „schmutzigsten Meiler“

Welche Schadstoffe Kohlekraftwerke freisetzen, ist jedoch relativ verlässlich erfasst. Betriebe müssen den Ausstoß der Anlagen jährlich melden. Die Emissionen werden im Europäischen Schadstofffreisetzungs- und Verbringungsregister gelistet. Das Register liefert aber noch mehr Informationen. Es weist insgesamt 53 Schadstoffe aus, mit denen die Kohlekraftwerke Luft, Wasser und Boden belasten. Neben Feinstaubpartikeln, die Atemwegs- sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursachen, zählen dazu Schwefeldioxid, Stickoxide und giftige Metalle wie Quecksilber und Blei. Auch hier gibt es Unwägbarkeiten von Anlage zu Anlage. So bestimmt die Höhe der Schornsteine, wie sich die Schadstoffe über das Land verteilen. Auch Filter beeinflussen die Menge der Emissionen.

Aus den Daten schufen die Autoren der neuen Studie eine „Top 30“ der schmutzigsten Kraftwerke Europas. Demnach stehen in Deutschland fünf der sechs Kraftwerke, die in Europa für den höchsten CO2-Ausstoß verantwortlich sind: Neurath (31 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2015), Niederaußem (27,3), Jänschwalde (23,3), Boxberg (19,4) und Weisweiler (18,1). Auch beim Ausstoß von Quecksilber sind sechs deutsche Kraftwerke in den „Top 10“: Neurath (670 Kilo im Jahr 2015), Niederaußem (530), Schkopau (430), Lippendorf (410) Boxberg (370) und Jänschwalde (330).