Berlin. Sollten sich die Briten für den Austritt aus der Europäischen Union entscheiden, hätte das Folgen für den Handel und die Finanzmärkte.

Die bange Frage an den Finanzplätzen lautet dieser Tage: Was machen die Briten? Entscheiden sie sich tatsächlich für einen Austritt aus der Europäischen Union?

Neuen Umfragen zufolge liefern sich EU-Gegner und –Befürworter ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Rund anderthalb Wochen vor dem Referendum am 23. Juni wachsen die Sorgen und die Unsicherheit in der Wirtschaft erheblich. Aus Furcht vor dem Brexit sind am Montag erneut Anleger aus den Aktienmärkten geflohen und suchten ihr Glück in Gold und Staatsanleihen. Der Dax gab weiter deutlich nach und fiel weit unter die markante 10.000 Punkte-Marke. Die Investoren trennten sich vor allem von Finanzwerten, denn die Banken wären am stärksten von einem Brexit betroffen.

Börsenexperten bezeichneten die Kursverluste der vergangenen Tage zwar als überzogen, warnten dennoch vor weiteren Rückschlägen. Denn die Unsicherheit wird auf dem Parkett am wenigsten geschätzt.

Der deutschen Exportwirtschaft ist bang zumute

Und auch abseits des Aktienmarktes mehren sich Sorgen und Warnungen: „Wenn die britischen Wähler sich für einen Brexit entscheiden ist kurzfristig mit einem Konjunkturabschwung in Großbritannien und weltweiten Börsenturbulenzen zu rechnen“, sagt Ifo-Chef Clemens Fuest dieser Redaktion. Grund dafür sei besonders die hohe Unsicherheit darüber, wie die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU künftig sein werden. Die langfristigen Wirkungen hingen davon ab, ob der Außenhandel Großbritanniens dauerhaft beeinträchtigt werde, betont Fuest. Tatsächlich schaut die Exportwirtschaft mit besonders bangem Blick auf die Insel. Für Deutschland ist Großbritannien der drittwichtigste Exportmarkt weltweit – nach den USA und Frankreich. 2015 hat Deutschland Waren im Wert von gut 89 Milliarden Euro an die Briten geliefert, das entspricht 7,5 Prozent aller deutschen Warenexporte.

Auf der deutschen Einfuhrseite kam das Vereinigte Königreich auf Platz neun aller Lieferländer. 2015 importierte Deutschland britische Waren im Wert von 38,3 Milliarden Euro, das entspricht einem Anteil von vier Prozent aller deutschen Wareneinfuhren. Deutschland hatte damit zuletzt einen Überschuss in der Handelsbilanz mit Großbritannien von über 50 Milliarden Euro. Eine unglaubliche Summe.

Sogar die Einführung von Zöllen ist möglich

Diese Zahlen verbergen allerdings, dass die Handelsbeziehungen für einzelne Güter jeweils einen besonders hohen Anteil an den Exporten haben. Laut exklusiven Berechnungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln (IW) lag der Anteil in einigen Warengruppen – vor allem bei Kraftwagen und Kraftwagenmotoren – noch deutlich höher. Hier wurden Waren für fast 25 Milliarden Euro exportiert, 15 Prozent aller Exporte in dieser Gütergruppe.

Der Handel könnte also massiv beeinträchtigt werden, so die Forscher. „Im schlimmsten Fall würden auf den Warenverkehr des Landes mit der EU sogar Zölle erhoben“, heißt es. Davon wären auch deutsche Unternehmen betroffen, nämlich dann, wenn deutsche Exporte mit britischen Einfuhrzöllen belastet würden. Und auf Importe von Großbritannien nach Deutschland der gemeinsame Außenzolltarif der EU angewendet werden müsste.

Deshalb müsse auch Deutschland mit einem Dämpfer für die Konjunktur rechnen, wenn der Brexit kommt, betont Ökonom Fuest. Und nennt eine erschreckende Zahl. Berechne man langfristige Effekte wie Forschung und Entwicklung, Investitionen und Technologieverbreitung mit ein, dann könnte Deutschland „bei einer dauerhaften Beeinträchtigung des Handels mit Großbritannien nach Szenarienrechnungen bis zu drei Prozent seiner Wirtschaftskraft einbüßen“.

Der Finanzplatz Frankfurt würde profitieren

Auch der Bankensektor hat vor dem 23. Juni erheblichen Respekt. Bundesbank-Vorstandsmitglied Andreas Dombret warnte vor einer großen Herausforderung: Neben „beträchtlichen Risiken für die britische und kontinentaleuropäische Konjunktur“ sowie Sorgen um eine weitere Abwertung des Pfunds stellten sich auch Fragen nach dem Umgang mit „eventuellen Marktturbulenzen“.

Die Europäische Zentralbank (EZB) ist laut Direktor Benoit Coeure dafür gerüstet, bei Marktturbulenzen unterstützend einzuspringen. „Die EZB ist für alle Möglichkeiten vorbereitet, Märkte insbesondere mit der Bereitstellung von Liquidität zu stabilisieren“, so Coeure. Die Sorge der Notenbanken gilt der Finanzstabilität. Zwar ist Großbritannien nicht Mitglied der europäischen Bankenunion und nimmt nicht an den gemeinsamen europäischen Mechanismen für Aufsicht und Abwicklung teil. Aber es ist Mitglied bei der europäischen Bankenaufsichtsbehörde EBA und überhaupt eng mit den anderen europäischen Geldinstituten verflochten.

Einen Gewinner gebe es wahrscheinlich, sollten die Briten tatsächlich ausscheren: Für den Finanzplatz Frankfurt hätte ein Brexit zumindest kurzfristig positive Auswirkungen. Finanzinstitute würden Geschäfte und Arbeitsplätze von der Themse nach „Mainhattan“ verlagern. Schon heute beschäftigen Finanzinstitute in Frankfurt über 60.000 Mitarbeiter.

Ein solches Umzugsszenario gilt auch für die Deutsche Bank, die in Großbritannien über 8000 Mitarbeiter beschäftigt. Wenn London nicht mehr Teil der EU sei, werde besonders der Handel mit Staatsanleihen von Euroländern nach Kontinentaleuropa verlegt, erklärte Vorstandschef John Cryan bereits. „Wir handeln schließlich auch keine italienischen Staatsanleihen in Tokio.“