London. Kleine Preise, große Sortimente: Die deutschen Discounter Aldi und Lidl kämpfen um Kunden in England. Der Wettbewerb dort ist hart.

Der Einkaufskorb ist voll: frisches Gemüse, Lammkoteletts, Shampoo, Allzweck-Reiniger, zwei Packungen Schokokekse, eine Flasche Wein. David Russell ist auf dem Weg zur Kasse. „Ich kaufe regelmäßig hier bei Lidl“, sagt er und verweist auf das gute Preis-Leistungs-Verhältnis. An diesem regnerischen Mittwoch arbeitet der 32 Jahre alte Steuerberater von zu Hause aus und nutzt die Mittagspause für den Einkauf. „Außerdem ist der Laden gut sortiert, aber trotzdem übersichtlich, da muss ich nicht ewig auf der Suche durch die Regale ziehen“, setzt er lachend hinzu und nickt mit dem Kopf in Richtung des riesigen Asda-Marktes gleich nebenan.

Schnell und stetig gewachsen

Der Lidl-Supermarkt in Battersea im Südwesten Londons ist eine von über 600 Filialen des deutschen Discounters in Großbritannien. Hinzu kommen rund 520 Aldi-Märkte. Seit dem Start im Land Anfang der 1990er Jahre sind die beiden Deutschen rasch und stetig gewachsen. So wie David Russell haben sie auf der Insel inzwischen viele, viele Fans. Und sie haben mit ihrem Erfolg den alteingesessenen Handelskonzernen ordentlich das Fürchten gelehrt, ihnen massiv den Markt abgegraben.

Viel Musik steckt nicht im britischen Lebensmittelhandel, der Gesamtmarkt stagniert seit Monaten. „Die Schlacht wird um Marktanteile geschlagen“, erläutert Fraser McKevitt, zuständig für Einzelhandel und Konsumentenforschung beim Marktforschungsunternehmen Kantar World Panel. Dabei glänzen vor allem zwei: die beiden deutschen Anbieter. In den Monaten Februar bis April haben sie laut Daten von Kantar World Panel ihren Marktanteil um jeweils 0,6 Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr ausgebaut, Aldi auf sechs Prozent, Lidl auf 4,4 Prozent.

Neukunden im hohen sechsstelligen Bereich

Beide haben jeweils eine hohe sechsstellige Anzahl neuer Kunden gewonnen, die Umsätze wachsen von Quartal zu Quartal um deutlich über zehn Prozent. Binnen drei Jahren haben die Zwei ihre Anteile so verdoppelt. Deutlich verloren haben dagegen zwei Platzhirsche: der Allrounder Tesco, vor allem aber Asda, eine Tochter des US-amerikanischen Walmart-Konzerns und lange der Billigheimer unter Englands Supermärkten.

Überraschend ist das nicht, denn mit ihrer Niedrigpreis-Strategie treffen die Discounter gerade Asda ins Herz. „Der Preiskrieg zeigt bisher keinerlei Anzeichen, sich abzuschwächen“, sagt McKevitt. Doch auch die anderen Großen tun sich schwer, haben hunderttausende Kunden verloren. In einem Werbespot im zurückliegenden Ostergeschäft nahm Aldi explizit Marks & Spencer aufs Korn und wies darauf hin, dass deren Hot Cross Buns, ein englisches Ostergebäck, um zwei Drittel teurer seien als die eigenen. „In den vergangenen Jahren sind die Preise für Nahrungsmittel um fast vier Prozent gefallen“, klagt Sainsbury’s-Chef Mike Coupe, der kürzlich bei der Präsentation der Zahlen auf das Phänomen hingewiesen hat. „Das ist toll für die Verbraucher. Aber nicht richtig toll, wenn Sie Lebensmittel verkaufen.“

Porsche-Fahrer kaufen Wein bei Lidl

Im klassenbewussten Großbritannien zählte die richtige Einkaufstasche lange als Statussymbol. Sainsbury’s und Waitrose galten als Anbieter für die obere Mittelklasse, Tesco und Marks & Spencer für die große Mitte, Morrisons für die „lower middle class“. Diese Zeiten sind vorbei, das untermauern eindrucksvoll die BMWs und Porsches auf dem Parkplatz des Lidl-Marktes in Battersea. Auch Einkäufer Russell hat lange dem nächstgelegenen Sainsbury’s-Markt die Treue gehalten, bis ihn ein Wein-Angebot erstmals zu Lidl gelockt hat.

Doch die günstigen Preise sind beileibe nicht der einzige Erfolgsfaktor, betonen Analysten. Aldi und Lidl gelten als extrem effizient. Die Konzentration auf weniger Marken je Produkt gehöre dazu, sie vereinfache Einkauf und Logistik. Ein typischer Aldi-Markt auf der Insel bietet Schätzungen zufolge zwischen 1000 und 2000 Artikel an. Bei Tesco liegt der Vergleichswert bei rund 50.000 verschiedenen Produkten. Die Vielfalt braucht nicht nur mehr Platz im Laden, sondern macht auch Einkaufsplanung und Lagerhaltung deutlich komplexer. Doch das knappere Sortiment ergänzen beide Discounter regelmäßig mit exklusiven Besonderheiten wie frischem Hummer, einem ganzen Serrano-Schinken, belgischer Schokolade oder Champagner, um neue Kunden zu locken.

Offizieller Supermarkt der englischen Fußballauswahl

Hinzu kommt die Größe der beiden europaweit operierenden Konzerne. Dank der Einkaufsmacht können sie bei ihren Eigenmarken, die den Löwenanteil des Sortiments ausmachen, besonders günstige Preise aushandeln. Die Vorlieben im britischen Markt ignorieren sie dennoch nicht. Zwar sieht in Battersea auf den ersten Blick alles aus wie bei Lidl in Bochum oder Bamberg – reichlich vollgestellte Regale mit Süßwaren und Schokolade in den Umverpackungen im Eingangsbereich, Paletten voller Aktionsware in großen Drahtkörben hinten in der Mitte, der Fußboden ist sandfarben gekachelt. Doch auf den Schalen mit Erdbeeren kleben kleine „Union Jacks“, sie sind in Yorkshire gereift. Auch die Fleischauswahl ist zum großen Teil lokal. Und die Fünf-Liter-Flasche Cider, eine Art Apfelwein, am Ausgang kostet nur ein Drittel des gleich großen Weißbier-Fasses daneben. Dank eines dreijährigen, millionenschweren Vertrags ist Lidl sogar zum offiziellen Supermarkt der englischen Fußballnationalmannschaft avanciert.

Auf einen weiteren Erfolgsfaktor verweisen Experten: die Zurückhaltung in Sachen Online-Shopping. Während es bei allen großen einheimischen Anbietern längst üblich ist, das gesamte Sortiment online anzubieten und nach Hause zuliefern, halten sich die deutschen Discounter zurück – während bei den großen Vier das Geschäft fast nur noch online wachse, wie die unabhängige Handelsmarkenexpertin Kate Jones bemerkt. Immerhin: Aldi bietet seit kurzem Einkauf im Netz und Lieferung für Wein und Aktionsware an. Lidl plant nichts dergleichen.

Wettbewerber schließen Filialen – Aldi baut 80 neue Märkte

Beide setzen weiter auf physische Präsenz, und das mit Macht. Während die Wettbewerber beständig unrentable Filialen schließen, plant Aldi 2016 die Eröffnung von insgesamt 80 neuen Märkten. Lidl hat sich für die kommenden drei Jahre jeweils knapp 50 neue Shops als Ziel gesetzt, außerdem ist eine umfangreiche Modernisierung bestehender Filialen geplant.

Stillstand ist im Handel auf der Insel keine Option. Schließlich könnte das Umfeld schon bald wieder komplett anders aussehen. In Teilen Londons und Birminghams testet der US-Online-Riese Amazon zur Zeit sein Angebot „Fresh“, das – wie seit kurzem auch in Berlin – schon heute Premium-Kunden die Lieferung von Nahrungsmitteln, auch gekühlt und tiefgefroren, binnen einer Stunde verspricht. Marktgerüchten zufolge steht ein großflächiger Ausbau des Angebots schon in den nächsten Wochen bevor. „Wenn ich ein Anbieter im Markt wäre, würde mich die Aussicht, dass Amazon gerade seinen Hut in den Ring wirft, ziemlich in Panik versetzen“, warnt Handelsexpertin Jones.