Wolfsburg/Berlin. Top-Ingenieure des Volkswagen-Konzerns sollen die Manipulationen an Dieselmotoren schon früher als gedacht beschlossen haben.

Die von Volkswagen mit der Aufklärung der Abgas­affäre beauftragte US-Kanzlei Jones Day hat bei ihren Ermittlungen zum Abgasskandal Erhellendes zum Ursprung des Wirtschaftskrimis herausgefunden: Laut den Untersuchungen der Kanzlei soll der damalige Vorstand nicht in die Manipulation der Abgaswerte verwickelt sein. Unterhalb der Vorstandsebene sollen aber fast alle Führungskräfte, die mit der Entwicklung des Motors befasst waren, den Betrug ins Werk gesetzt haben. Das zeigen Recherchen von NDR und WDR.

Demnach begann der Betrug, der den Autokonzern in die schwerste Krise seines Bestehens getrieben hat, exakt am 20. November 2006. An diesem Tag kamen in Wolfsburg hoch bezahlte Techniker und Ingenieure sowie die Topmanager der Motortechnik zu einer Besprechung zusammen. Es war eine kleine Gruppe von hoch qualifizierten Experten, viele von ihnen verdienten weit über eine halbe Million Euro pro Jahr.

Techniker konnten strenge US-Vorgaben nicht erreichen

Die Elitetüftler arbeiteten damals an einem Dieselmotor für den US-Markt, dem sogenannten Entwicklungsauftrag (EA) 189. Doch den Technikern stellt sich ein großes Problem: Sie können die strengen Abgasgrenzwerte der USA nicht einhalten. In der Besprechung betrachten sie eine Präsentation zum Testzyklus der amerikanischen Behörden. Es geht um die Zulassung der VW-Fahrzeuge auf dem Milliardenmarkt der USA, doch die Techniker glauben nicht, dass sie die Vorgaben erreichen können. Es habe eine Stimmung der Ausweglosigkeit geherrscht, sagen Sitzungsteilnehmer später. Sie sollen für VW das technisch fast Unmögliche leisten: Die Kosten für die Abgasreinigung sollen niedrig, der Motor stark und sparsam sein – und trotzdem die Grenzwerte einhalten.

Da alle wussten, dass der Motor nicht alle diese Anforderungen erfüllen kann, fiel auf der Sitzung schließlich der Entschluss zu dem Wirtschaftsverbrechen, das den Konzern bis heute in Atem hält. Eine entscheidende Rolle soll laut NDR und WDR dabei der damalige Leiter der Motorenentwicklung, Rudolf Krebs, gespielt haben. Laut Teilnehmern der Besprechung habe Krebs den Einbau gebilligt, berichten die Sender. „Wir tun es, aber wir dürfen uns nicht erwischen lassen“, an diese Aussage von ihm erinnern sich laut NDR Teilnehmer der Sitzung, er selbst jedoch nicht. Krebs, der später Werksleiter in Salzgitter wurde, dann Chef der Elektromotorenfertigung und heute in Pension ist, sagte bei Befragungen, er könne sich nicht an den Inhalt der Sitzung erinnern. Eine Anfrage von NDR und WDR an Krebs blieb unbeantwortet. Auch für diese Zeitung war Krebs nicht erreichbar. Von VW war keine Stellungnahme zu erhalten.

Betrugssoftware wurde systematisch weiterentwickelt

Laut den Recherchen von NDR und WDR wurde der Abgasbetrug aber nicht nur einmal in Gang gesetzt, sondern über die Jahre hinweg systematisch fortentwickelt. Ab 2008 wurden die ersten Motoren in den USA serienmäßig mit der Betrugssoftware ausgestattet und ab 2011 haben VW-Ingenieure die Software sogar noch weiterentwickelt. Die Techniker waren offenbar mit der geringen Effizienz ihrer 2008 eingebauten Betrugssoftware unzufrieden. Denn die Autos starteten immer im Testmodus und schalteten die Abgasreinigung erst nach einer gewissen Zeit ab, was die Partikelfilter schnell verstopfen ließ.

Zur Abhilfe entwickelten die VW-Tüftler laut dem Bericht eine „Umkehrfunktion“ in der Software, die ab dem Modelljahr 2014 serienmäßig eingesetzt wurde. Sie bewirkte, dass die Motoren direkt nach dem Start im Straßenmodus mit hohem Stickoxid-Ausstoß liefen. Nur wenn die Software des Autos erkannte, dass es gerade auf dem Prüfstand war, schaltete es in den sauberen Modus. Dieses Software-Update wurde am 5. Februar 2014 unter dem Namen „Einspritztuning“ vom VW-Arbeitskreis Produktsicherheit freigegeben.

Im Zuge eines Rückrufs Ende 2014 wurden auch ältere Motoren mit dieser neuen Software ausgestattet. Kaum zu glauben: Dies geschah auch noch während die US-Behörden bereits wegen der Betrugssoftware gegen VW ermittelten. Die US-Umweltbehörde EPA war im Frühjahr 2014 auf den Betrug aufmerksam geworden.