Schanghai. Bei seinem Schanghai-Besuch spricht Finanzminister Wolfgang Schäuble über Wirtschaft. Doch fernab von der Heimat ist auch Europa Thema.

Wenn Wolfgang Schäuble sich in Fahrt redet, kann es passieren, dass er alle Vorsicht fahren lässt. Dann formuliert der Bundesfinanzminister Sätze, von denen er genau weiß, dass sie nicht allen gefallen. Andererseits: Wer kann sich in der Politik noch feinen Spott leisten? Wer, wenn nicht Schäuble?

Dieses Mal passiert es im Ballsaal des Hotels „Royal Méridien“ in Schanghai. Schäuble ist in der chinesischen Megametropole, weil er am Treffen der Finanzminister der G-20-Staaten teilnimmt, der 20 größten Wirtschaftsnationen weltweit. Zuvor hat ihn die deutsche Handelskammer zu einem Auftritt eingeladen, und Schäuble spricht nun vom Podium aus zu mehr als 400 Geschäftsleuten. Der Moderator fragt ihn, welcher politische Gegner ihn beeindruckt habe. Überraschtes Gesicht. Pause. Dann beginnt Schäuble mit SPD-Größen wie Willy Brandt, hangelt sich weiter bis zu Joschka Fischer (außenpolitisch großartig, aber zu selbstverliebt) und landet dann bei Winfried Kretschmann, dem grünen Ministerpräsidenten in seiner Heimat: „Der macht mit der CDU in Baden-Württemberg das, was Frau Merkel auch gemacht hat: die Gegner zur Verzweiflung bringen.“

Ausflüge ins rhetorisch Zweideutige

Die deutschen Zuhörer schmunzeln. Offene Worte gibt es nicht mehr oft in der Politik, erst recht nicht gegen die eigene Partei, die sich im CDU-Stammland gerade um den Wahlsieg zu bringen droht. Es schwingt darin aber auch einiges an Lob und Respekt für die Kanzlerin mit. Er selbst lächelt und behauptet wie immer, das müsse man alles nicht so ernst nehmen. Trotzdem: Zu seinen Überzeugungen stehen, Ruhe bewahren, ein bisschen über den Dingen schweben – das verbindet Kretschmann, Merkel und Schäuble.

Der Minister ist berüchtigt für diese Ausflüge ins rhetorisch zweideutige Gelände. In der Flüchtlingskrise hat er sich damit dem Verdacht ausgesetzt, er stehe in Opposition zur Kanzlerin. Er wolle sie gar stürzen. Noch vor dem Abflug hatte Schäuble gesagt: „Die Flüchtlingszahlen müssen dramatisch sinken, sonst schaffen wir das nicht mehr.“ Das war Merkel-Rhetorik, nur ins Negative gewendet. Wer Schäuble aber fernab der Heimat beobachtet, sieht: Das Gegenteil ist der Fall. Deutlicher als der Finanzminister in Schanghai kann man nicht für europäische, ja für internationale Lösungen von Krisen werben, ganz wie die Kanzlerin. Das gilt für die Flüchtlingskrise wie für Finanz- und Wirtschaftskrisen. Theoretisch jedenfalls.

Finanzmärkte sind nervös

Praktisch ist das nicht immer so einfach, wie sich in einem anderen Saal zeigt, in einem anderen Hotel in Schanghai. Ein Redner nach dem anderen singt hier das hohe Lied auf Strukturreformen in der Wirtschaft. Allgemeines Kopfnicken, aber konkret wird es nie. Seit Jahren versprechen sich die G-20-Staaten, das Risiko von Wirtschaftskrisen zu verringern, indem sie ihre Schulden senken, die Geldpolitik nicht zu locker werden lassen, den Finanzsektor stabilisieren und eben Reformen durchführen. Eine Reihe der G-20-Staaten steckt in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Finanzmärkte sind nervös, von den Kriegsschauplätzen der Welt ganz zu schweigen. Nicht nur in Shanghai geht die Angst vor einem weltweiten Abschwung um.

„Wenn ein Land, das so wenig wechselbereit ist wie Deutschland, Reformen umsetzen kann, dann können andere das auch“, behauptet Schäuble. „Die Flüchtlingskrise ist ein Produkt globaler Ungleichheiten“, sagt Schäuble weiter. Aber keiner seiner Kollegen mag das Thema aufgreifen. Die Finanzwelt interessiert: Wie geht es weiter mit Europa? Instabilitäten, ein Austritt Großbritanniens womöglich oder ein von der EU abgehängtes Griechenland, das wäre nicht gut für den Rest der Welt. Für die EU sowieso nicht.

„Zerreißprobe für Europa“

Schäuble gibt sich keinen Illusionen hin. Er spricht von einer „unruhigen Phase“, sogar von einer „Zerreißprobe für Europa“. Europa werde aber gestärkt aus dieser Krise hervorgehen, glaubt er. In diesem Jahr wird er 74 Jahre alt, seit 44 Jahren sitzt er im Bundestag. Er ist im Stadium des Elder Statesman angekommen. Nur von der Politik lassen, das kann er nicht. Manchmal lässt er durchblicken, dass er es besser könnte als dieser oder jener Minister, manchmal auch besser als die Kanzlerin. Könnte Schäuble selbst Kanzler? Ja. Freut ihn der Gedanke? Ja. Will er auch Kanzler werden? Schäubles Antwort: „Ich habe immer versucht, meine eigene Meinung zu bewahren, aber loyal zu sein.“

Zwei Sätze sagt er noch, die zeigen, wie nah er Merkel in der Einschätzung der Flüchtlingskrise ist: „Wenn die Welt nur die Bilder sehen würde vom Hauptbahnhof in Budapest, vom Stacheldraht in Mazedonien oder vom Flüchtlingscamp im französischen Calais, dann wäre Europa ziemlich beschädigt. Deutschland hat Europas Ehre gerettet.“ Ein größeres Lob kann Merkel von ihm nicht bekommen.