Ob in Bramfeld, Winterhude oder Nienstedten. 900 Menschen in der Stadt halten ihr eigenes Geflügel. Auch aus Protest gegen Massentierhaltung.

Hamburg. Hilde zieht einen Regenwurm aus dem nassen Boden, Helga und Herta umkreisen auf der Suche nach Samen einen kleinen Busch, und Heide geht schon mal vor: Über die Holzstiege klettert sie in das kleine Fachwerkhaus mit dem Butzenfenster und setzt sich auf die Stange. Wenig später, aus der Dämmerung ist Dunkelheit geworden, kommen die „Kolleginnen“ nach. Heide dreht sich auf dem Ast einmal um die eigene Achse, damit alle nach Hühnermanier Kopf nach vorne, Kopf nach hinten, Kopf nach vorne die Nacht verbringen können. Noch ein letztes Gackern, dann ist Ruhe im Hühnerstall.

Hilde, Heide, Herta und Helga wohnen in Nienstedten, auf einem der geräumigen Villengrundstücke der Hochkamp-Gegend. Sie dürfen hier normalerweise frei herumlaufen, wenn nicht Vogelgrippe-Alarm ist. Ihre Geschichte beginnt vor fast genau einem Jahr. „Mein Vater lebt im Harz und hält dort Hühner. Wir haben die Eier probiert, und der Geschmack war fantastisch“, erzählt Stefan Kuna-Wagenhuber, der Herr der Hühner. Schnell ist die ganze Familie begeistert von der Idee, auch in Hamburg ein paar Proteinproduzenten anzuschaffen. Platz ist schließlich genug. Und die Nachbarn sind bald überzeugt – ein Hahn ist nicht geplant.

Mit vier Küken fing es an

Im Januar vergangenen Jahres kaufen die Hamburger vier Küken. Sie ziehen die Kleinen unter der Wärmelampe groß, bauen Zäune, Schlafhaus und Futtertröge. Der Tag, als Hilde, Heide, Herta oder Helga, es ist nicht überliefert, wer da vorgeprescht ist, das erste Ei legt, geht in Nienstedten als Festtag in die Geschichte ein. Es liegt im Unterholz, „ein einmaliges Erlebnis“, schwärmt Kuna-Wagenhuber. Heute legen die Tiere im Schnitt drei Eier am Tag, wenn sie nicht in der Mauser sind.

Hühnerleben in Hamburg. Das war bisher relativ selten. Es wird aber auch in der Großstadt immer beliebter, eigenes Geflügel zu halten. Inzwischen sind 900 private Hühnerbesitzer mit jeweils bis zu 30 Tieren in der Hansestadt registriert. Für die nötigen Tipps zur Haltung der Eierproduzenten gibt es zahlreiche Ansprechpartner, etwa die „IG Hühner Hamburg“ aus Volksdorf. „Bei uns engagieren sich überwiegend Menschen, die bewusst leben wollen“, erzählt die Gründerin Christa Grotepaß. Den Tieren eine Alternative zum leidvollen Leben in der Intensivhaltung zu bieten sei nicht besonders anspruchsvoll: Ob in der Kleingartensiedlung in Rahlstedt, im Hinterhof von Bramfeld oder auf dem Balkon in Winterhude, im Prinzip sei die Haltung überall möglich. „Ich brauche eine Voliere, sollte die Hennen in Gruppen halten und muss die Tiere beim Ordnungsamt anmelden“, sagt die 57-Jährige. Die Besitzer von „Gartenhühnern“ seien Eltern, die ihren Kindern zeigen wollen, dass Eier nicht im Pappkarton wachsen. Oder Leute, die sich auf dem Weg zum Selbstversorger befinden und auch Tomaten im Garten produzieren. In Ottensen bietet eine Hühnerhaltergruppe Proteine frisch vom Feld sogar zum Verkauf: Aus einem „Automaten“ können die Anwohner Eier entnehmen und dabei den Mistkratzern bei der Arbeit zusehen.

Auch auf der aktuell stattfindenden Grünen Woche gehören Urban Gardening und die private Tierhaltung zu den Trendthemen. Schließlich kritisieren immer mehr Menschen die Massentierhaltung. In Berlin ziehen heute Tausende Demonstranten unter dem Motto „Wir haben es satt“ vor das Kanzleramt. Eine ihrer Forderungen: Artgerechte Haltung ohne Antibiotika-Missbrauch.

Allerdings verweisen die Produzenten immer wieder auf den starken Preiswettbewerb, angeheizt etwa durch die Discounter. „Aldi verkauft Eier für 10 Cent das Stück“, argumentiert Landwirt Henner Schönecke. „Vor 60 Jahren kostete ein Ei auf dem Wochenmarkt 25 Pfennig.“ Angesichts steigender Kosten müssten die Anbieter heute deutlich mehr Tiere halten als früher. Ein Familienbetrieb könne inzwischen nur noch ab einer Größenordnung von 40.000 Hennen in Freilandhaltung oder mehr als 100.000 Tieren in Bodenhaltung überleben.

Schönecke selber hält im Landkreis Harburg 50.000 Legehennen. Die Branche müsse in Sachen Besatzdichte, Futter und Verhalten der Vögel dazulernen, sagt Schönecke, der auch in Verbänden engagiert ist, selbstkritisch. Zugleich müssten sich die Kunden bewusst machen, dass die Eier von Tieren stammen und sie Einfluss auf die Bedingungen nehmen können.

Massentierhaltung zulasten des Tierwohls

Die Massentierhaltung geht zulasten des Tierwohls, aber auch auf Kosten der Gesundheit der Verbraucher. Denn der Einsatz von Antibiotika ist bei uns selbst in der Herstellung von Bio-Eiern erlaubt. Auch bei der ökologischen Haltung sind bis zu 3000 Tiere in der Gruppe keine Seltenheit. Die drangvolle Enge fördert die Übertragung von Krankheiten, Eier sind also häufig mit Arzneimittelrückständen belastet.

Zudem ist die industrielle Produktion mit dem schmerzhaften Kürzen der Schnäbel, dem Töten der nicht produktiven männlichen Küken und dem dichten Stallbesatz alles andere als artgerecht. Während Ur-Hühner nur wenige Eier im Jahr legen, um sich fortzupflanzen, kommen die hochgezüchteten Hybriden heute auf bis 320 Eier im Jahr. Ständige Beleuchtung, damit die Tiere nicht zur Ruhe kommen, soll die Legeleistung hoch halten. Diese Bedingungen zehren die Körper der Vögel aus: Nach weniger als zwei Jahren endet das Leben von jährlich 30 Millionen Legehennen als unrentabel in den Schlachthöfen.

Für Stefan Kuna-Wagenhuber spielen wirtschaftliche Überlegungen bei seinen Hühnern keine Rolle. Ein Gewerbe könnte er mit den neuen Mitbewohnern nicht aufbauen. „Das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist fragwürdig“, sagt der 38-Jährige, „aber wir freuen uns an den Tieren, und das ist ja auch ein Wert“, sagt der Journalist, der von dem Familienzuwachs so begeistert ist, dass er sogar einen Internet-Blog eingerichtet hat. Unter stadtlandeier.wordpress. com erzählt er mit viel Liebe den Alltag der vier Bielefelder Kennhuhn-Damen quasi als Fortsetzungsroman. Für die beiden Töchter Merle, 7, und Narla, 4, brächten die Stallbewohner auch die Einsicht, dass nicht alles immer sofort zu haben sei. „Wir sind gewohnt, dass wir selbst um 21.45 Uhr noch frischen Salat oder frisches Brot im Supermarkt bekommen“, sagt Kuna-Wagenhuber.

Diese ständige Verfügbarkeit schaffe eine Überflussgesellschaft, in der Tonnen Lebensmittel weggeworfen werden, sagt der Hobbyhalter, der übrigens noch den weniger kritischen Part des Paars einnimmt: Ehefrau Alena Wagenhuber lebt als Veganerin und verzichtet damit komplett auf tierische Erzeugnisse, auch auf Eier von Hilde oder Herta. Am liebsten wäre sie heute auch zur Demo nach Berlin gefahren. Wären da nicht die Hühner.

Denn morgen bekommt die Familie noch weiteren Zuwachs: von einigen Hennen, die in der Massenproduktion nicht mehr gebraucht werden, weil sie inzwischen nicht mehr „profitabel“ genug sind. Normalerweise wären sie geschlachtet worden. Aber jetzt werden sie von den Wagenhubers adoptiert. Und können zusammen mit Helga, Heide, Herta und Hilde noch etliche Jahre in Hamburg auf die Jagd nach Regenwürmern gehen.