Berenberg-Chefvolkswirt Holger Schmieding über die Geldpolitik der Zentralbanken, die Konjunktur und die Löhne in Deutschland

Hamburg. Die deutsche Wirtschaft lahmt. Manche Experten befürchten sogar eine neue Rezession, andere sehen den Euro erneut in Gefahr. Das Abendblatt sprach darüber mit Holger Schmieding, Chefvolkswirt des Hamburger Privatbankhauses Berenberg. Auch in diesem Jahr haben ihn Finanzprofis unter 139 Mitbewerbern wieder zum besten Finanzmarktvolkswirt für Europa gewählt.

Hamburger Abendblatt:

In den vergangenen Monaten haben die meisten Banken und Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Konjunkturprognosen für 2014 und 2015 spürbar reduziert. Waren die Volkswirte, von denen viele ein Wachstum in Deutschland von mehr als zwei Prozent in diesem Jahr erwarteten, zu Jahresbeginn allesamt zu optimistisch?

Holger Schmieding:

Der russische Präsident Wladimir Putin hat uns mit seinem Angriff auf die Ukraine einen Strich durch die Rechnung gemacht. Seit dem Frühjahr sehen wir einen spürbaren Rückgang der Investitionen. Es gibt dafür keine binnenwirtschaftlichen Gründe. Ursache ist der geopolitische Schock. Denn Russland ist zurückgekehrt zum Denken in nationalen Einflusssphären – wenn man so will, ein Rückfall in schlechte alte Zeiten.

Ist die deutliche Abschwächung der Wirtschaft in Deutschland auch eine Rückwirkung der westlichen Sanktionen gegenüber Russland?

Schmieding:

Die eigentlichen Sanktionen sind für die deutsche Wirtschaft nahezu bedeutungslos. Insgesamt läuft unsere Ausfuhr gut. Es ist die Unsicherheit, die unsere Investitionstätigkeit lähmt. Der Optimismus ist angekratzt. Geprägt von geopolitischen Sorgen ist die Stimmung heute schlechter als die Lage. Darum sind aber auch die Chancen gut, dass es bald wieder aufwärtsgeht. Denn bleiben weitere schlechte Nachrichten aus, kann sich die Stimmung wieder bessern. Dann wird wieder investiert.

Wie entwickelt sich die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr, und wie geht es nach Ihrer Einschätzung 2015 weiter?

Schmieding:

Ich erwarte für 2014 ein Wachstum von 1,5 Prozent, im nächsten Jahr dürften es 1,2 Prozent sein. Die letztere Zahl gibt aber einen falschen Eindruck von der voraussichtlichen Dynamik: Nach einem schwachen Start dürfte es im Laufe des kommenden Frühjahrs wieder deutlich aufwärtsgehen, ab der Jahresmitte können wir schon wieder ein Wachstum von etwa zwei Prozent sehen. Die binnenwirtschaftlichen Voraussetzungen sind jedenfalls gut. Bei Lohnsteigerungen von 2,5 bis 3,0 Prozent in diesem Jahr, und das bei einer Inflationsrate nahe null, ergibt sich ein vernünftiges Plus der Realeinkommen, was dem privaten Konsum zugute kommt.

Welche Entwicklung erwarten Sie für den Welthandel, der gerade für Hamburg wichtig ist?

Schmieding:

Auch hier ist Zuversicht angebracht. Wichtige Handelspartner weisen ein robustes Wachstum aus. Das gilt für die USA, für Großbritannien und ebenso für große Teile Asiens. Auch wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in China nicht mehr um 7,5 Prozent, sondern nur noch um etwa 7,0 Prozent zulegt, bleibt das Land ein Wachstumsmotor. Auf lange Sicht allerdings werden immaterielle Güter wie Dienstleistungen oder Software, die nicht auf den Seetransport angewiesen sind, immer mehr den Welthandel prägen. In den nächsten Jahrzehnten kommt es immer mehr auf Ideen an statt auf Stahl.

Kürzlich druckte das britische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ eine Titelgeschichte, die darauf hinauslief, dass der Euro bald wieder genauso gefährdet sein dürfte wie im Jahr 2011. Stimmen Sie dieser Einschätzung zu?

Schmieding:

Im Großen und Ganzen sehe ich das nicht so. Zwar steigt in Griechenland die Gefahr von Neuwahlen im Frühjahr, bei einem Sieg der Linksradikalen könnte sich Athen vielleicht sogar aus dem Euro verabschieden. Aber generell ist wirtschaftlich gesehen vieles auf dem richtigen Weg. Es besteht allerdings hier und da das Risiko, dass man eine wirkungsvolle Therapie zu früh absetzt.

Alles in allem halten Sie die Schuldenkrise für überwunden?

Schmieding:

Die Euro-Rettungspolitik wird immer mehr zu einem großen Erfolg. Die Randländer der Euro-Zone befinden sich im Aufschwung. Dort kehrt der Mut zu Investitionen zurück.

Wie wirkungsvoll ist die ultralockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB)?

Schmieding:

Im internationalen Vergleich ist ihre Geldpolitik relativ wenig expansiv. Es geht dem Euro-Raum konjunkturell seit Jahren schlechter als Ländern wie den USA und Großbritannien, deren Notenbanken die Wirtschaft seit 2009 noch wesentlich großzügiger mit Liquidität versorgt haben, ohne irgendeine Inflation zu verursachen.

Werden wir für die aktuellen Niedrigzinsen und die von den Notenbanken ausgehende Geldflut später einen Preis zahlen müssen – etwa in der Form sehr hoher Inflationsraten?

Schmieding:

Nein, es zeichnet sich keine Inflation ab. Wenn wir einen Preis zahlen, dann dafür, dass die EZB recht spät gehandelt hat. Schon die Rezession des Jahres 2012 und der resultierende Anstieg der Arbeitslosigkeit in vielen Euro-Ländern hätte durch eine mutigere Geldpolitik vermieden werden können. Aber zurück zu der Frage: Wie manche Professoren glauben konnten, dass man nach einer Finanzkrise mit Megarezession wie der von 2008/2009 dann anschließend hohe Inflationsraten bekommt, ist mir bis heute unverständlich.

Haben aber nicht die drastischen Leitzinssenkungen der US-Notenbank Fed in den Jahren 2001 und 2002 letztlich zu der Finanzkrise geführt?

Schmieding:

In der Tat hat eine übermäßig lockere Geldpolitik der Fed von 2002 bis 2007 eine Immobilienblase in den USA aufgebläht, deren Platzen großen Schaden angerichtet hat. Damals war die US-Geldpolitik falsch. Heute zeichnet sich so eine Blase aber weder in den USA noch in Europa ab. Im Euro-Raum geht das Kreditvolumen ja sogar zurück. Zwar hat die EZB den europäischen Geschäftsbanken zum Jahreswechsel 2011/2012 einen Billionenbetrag zu sehr niedrigen Zinsen zur Verfügung gestellt. Aber dieses Geld ist inzwischen nahezu vollständig zur EZB zurückgeflossen. Das wird gern übersehen. Übrigens sollte man sich in Deutschland keine Illusionen machen: Wenn wir die D-Mark noch hätten, wären die Zinsen noch niedriger – so wie in der Schweiz.

Neigt sich die Niedrigzinsphase bald dem Ende entgegen?

Schmieding:

Es gibt keine Anzeichen für spürbar anziehende Inflationsraten. Damit spricht alles dafür, dass die Zinsen noch für mehrere Jahre sehr niedrig bleiben.

Was halten Sie von den Negativzinsen, die einige Banken nun verlangen?

Schmieding:

Ich halte Negativzinsen derzeit nicht für angemessen. Zwar müssen Banken für Liquidität, die sie bei der EZB parken, jetzt eine kleine Strafgebühr entrichten. Dass soll den Banken einen Anreiz geben, die Liquidität nicht bei der Zentralbank zu horten, sondern sie sinnvoll einzusetzen. Sofern sie dies tun, sollten sie in der Lage sein, von Negativzinsen für Bankeinlagen abzusehen.