Nach dem beschlossenen Atomausstieg wird nun über die Zukunft des Grubengoldes diskutiert. Vattenfall will seine Kraftwerke im Osten verkaufen

Hamburg. Die Braunkohlekraftwerke in Ostdeutschland würden noch lange ein Teil der konzerneigenen Stromerzeugung bleiben, sagten Manager des Stromkonzerns Vattenfall dem Abendblatt in diesem Jahr mehrfach. Das allerdings war vor der Parlamentswahl in Schweden Mitte September, aus der eine neue rot-grüne Minderheitsregierung hervorging. Seitdem hat sich für den schwedischen Staatskonzern Vattenfall vieles geändert, auch mit Blick auf seine umfangreichen Beteiligungen in Deutschland. „So schnell wie möglich“ werde man die ostdeutschen Braunkohlekraftwerke und die dazugehörenden Tagebaue verkaufen, sagte Vattenfall-Finanzvorstand Ingrid Bonde vergangene Woche in Stockholm. Grundlegend hinfällig sind damit womöglich auch Pläne des Konzerns, neue Tagebaue in Brandenburg aufzureißen, um die nahe gelegenen Kraftwerke mit Brennstoff zu versorgen. Stattdessen folgt Vattenfall der strategischen Vorgabe der neuen schwedischen Regierung, die Klimabilanz der eigenen Kraftwerke deutlich zu verbessern. Braunkohle ist der klimaschädlichste Brennstoff.

Das neue Vattenfall-Steinkohlekraftwerk in Hamburg-Moorburg sei davon allerdings nicht betroffen, teilte das Unternehmen dem Abendblatt mit. Die Anlage mit rund 1700 Megawatt elektrischer Leistung in zwei Blöcken, eines der größten Steinkohlekraftwerke Europas, wird derzeit hochgefahren. Block B soll im Dezember den Regelbetrieb aufnehmen, Block A im zweiten Quartal 2015. Die geplante Stromerzeugung von rund elf Milliarden Kilowattstunden im Jahr entspricht rechnerisch dem gesamten Strombedarf Hamburgs. Vattenfall ist Marktführer bei der Stromversorgung in der Hansestadt.

Wachsende Anforderungen für den Klimaschutz, ein immer größerer Anteil von erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung in Deutschland – der Ausstieg aus der Kohleverstromung könnte vor diesem Hintergrund ein Selbstläufer sein, ist es aber nicht. Politik, Kommunen und Wirtschaft müssen klären, wie die Versorgungssicherheit in einem System mit wachsenden, aber schwankenden Anteilen von Windkraft und Solarstrom gewährleistet bleibt. Zugleich drängt die Stromwirtschaft auf Konzepte dafür, wie die Eigner der Kohlekraftwerke in Deutschland für deren wirtschaftlichen Wertverfall im Zuge der politisch gesteuerten Energiewende entschädigt werden.

Nach dem Beschluss zum Ausstieg aus der Atomkraft bis zum Jahr 2022 steht nun die Verstromung von Stein- und Braunkohle im Fokus von Politik, Umweltorganisationen und Klimaschützern. Greenpeace kippte am Donnerstag acht Tonnen Braunkohlebriketts vor das Bundeswirtschaftsministerium in Berlin, um gegen die Politik von Bundeswirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel (SPD) zu demonstrieren. Die Organisation kritisiert, Gabriel verzögere den Umstieg auf erneuerbare Energien und schütze den Betrieb von Kohlekraftwerken.

„Wir fordern den Ausstieg aus der Kohleverstromung, bei der Braunkohle bis 2030, bei der Steinkohle bis spätestens 2040. Das ist das A und O jeder neuen Strommarktordnung in Deutschland“, sagte Greenpeace-Energiecampaigner Tobias Austrup dem Abendblatt. „Der Kohleausstieg kann so organisiert werden wie der Atomausstieg, wenn auch mit Verbesserungen im Detail. Die Versorgungssicherheit wäre dadurch nicht im Geringsten gefährdet. Es gibt hierzulande enorme Überkapazitäten bei den Kraftwerken.“

Wenn Deutschland seine selbst gesteckten Klimaschutzziele erreichen will, muss vor allem der Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid aus Kohlekraftwerken reduziert werden, der in den vergangenen Jahren wieder deutlich gestiegen ist. „Es wird wohl nicht anders gehen, als dass wir auch Kohlekraftwerkskapazitäten abbauen“, sagte Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) zu Beginn der Woche als Reaktion auf den neuen Weltklimabericht der Uno. Gegenüber dem Basisjahr 1990 will Deutschland seinen Ausstoß von Treibhausgasen bis 2020 um 40 Prozent reduzieren. Erreichbar erscheinen aus heutiger Sicht aber bestenfalls 33 bis 34 Prozent. „Wir müssen mehr tun“, sagte Hendricks.

Allerdings ist der Abschied von der Kohleverstromung weit komplizierter als der Atomausstieg. Mithilfe der Kernspaltung erzeugte man in Spitzenzeiten in Deutschland in weniger als 20 Anlagen rund ein Viertel des Strombedarfs. Demgegenüber decken derzeit 52 Braunkohle- und 66 Steinkohlekraftwerke – so eine Aufstellung der Bundesnetzagentur – rund 45 Prozent des deutschen Strombedarfs. In Kohlekraftwerken und bei der Bereitstellung des Brennstoffs arbeiten weit mehr Menschen als in der Atomkraftbranche. Allein Vattenfall beschäftigt in seinen vier Braunkohlekraftwerken und den Tagebauen in Brandenburg und Sachsen rund 8000 Mitarbeiter. Für den Unterhalt der Anlagen kaufte der Konzern bei regionalen Unternehmen im Jahr 2013 Waren und Dienstleistungen für 600 Millionen Euro. Nicht nur die zuständigen Gewerkschaften, auch die betroffenen Landesregierungen und selbst die Oppositionsparteien vor Ort machen gegen eine Stilllegung von Kraftwerken und Tagebauen mobil.

Dabei läuft der Kohleausstieg längst. Investitionen in neue Kohlekraftwerke wie in Hamburg-Moorburg sind selten geworden. Seit Jahren schlägt den Versorgungsunternehmen vor Ort wachsender Widerstand gegen den Bau neuer Anlagen entgegen. Etliche alte Kohlekraftwerke würden die Energieversorger obendrein lieber heute als morgen abschalten – ihr Betrieb rechnet sich im Zuge der Energiewende nicht mehr. Bedingt auch durch neue Erzeugungskapazitäten etwa bei der Windkraft, wird an den Energiebörsen derzeit zu viel billiger Strom gehandelt.

Doch über die Stilllegung entscheiden nicht allein die Betreiber, sondern im Zweifel die Bundesnetzagentur. Wenn ein Kraftwerk „systemrelevant“ ist, um die Stabilität des Netzes in einer Region sicherzustellen, kann die staatliche Netzaufsicht anordnen, die Anlage einsatzbereit zu halten. Jeweils zwei Kraftwerksblöcke in Heilbronn, Walheim und Marbach kann der Versorger Energie Baden-Württemberg (EnBW) mit Sitz in Karlsruhe derzeit nicht wie gewünscht stilllegen. „Wir müssen die Anlagen zur Stabilisierung am Netz halten, können sie aber trotz der Vergütung, die wir vom Netzbetreiber bekommen, nicht kostendeckend betreiben“, sagt EnBW-Sprecher Ulrich Schröder. „Das wird noch zu verhandeln sein.“ Im Süden sei die Stilllegung alter Kraftwerke schwieriger als in Norddeutschland: „Im Norden gibt es – im Vergleich etwa zu Baden-Württemberg – wesentlich höhere Kapazitäten aus Windkraftwerken an Landstandorten und zunehmend auch aus Offshore-Windparks.“

Energieminister Gabriel will 2016 vom Bundestag eine neue Strommarktordnung im Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) beschließen lassen. Sie soll dem immer weiter steigenden Anteil erneuerbarer Energien im Strommix gerecht werden. Die Diskussion in den Fachgremien und auf politischer Eben eröffnete der Vizekanzler dieser Tage mit einem sogenannten Grünbuch, das vor allem eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation enthält.

Heftig umstritten ist unter anderem, welche Rolle den Kohlekraftwerken künftig im Strommix zukommen soll. Organisationen wie der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) fordern, den Kraftwerksbetreibern das Vorhalten von Reservekapazitäten von den Netzbetreibern – und damit letztlich von allen Stromverbrauchern – höher vergüten zu lassen. In der Fachwelt werden solche Vorschläge unter dem Stichwort „Kapazitätsmärkte“ debattiert. „Die Schaffung von Kapazitätsmärkten würde den Betrieb von Kohlekraftwerken auf Jahrzehnte zementieren und einen Ausstieg aus der Technologie auf sehr lange Sicht unmöglich machen“, sagte Greenpeace-Campaigner Austrup.

Selbst in der etablierten Stromwirtschaft sind deutschlandweite, fest vergütete Reservekapazitäten umstritten. „Wir lehnen pauschale, flächendeckende Kapazitätsmärkte ab, weil wir sie nicht benötigen und weil dadurch nur wieder neue Subventionen in der Energiewirtschaft geschaffen würden“, sagte Vattenfall-Sprecher Stefan Müller dem Abendblatt. „Aus unserer Sicht müssen auf regionaler Ebene pragmatische und flexible Lösungen für die Versorgungssicherheit gefunden werden, unter Einbeziehung jeweils aller Stromerzeuger, vom Kohlekraftwerk bis zum Windpark. Damit stehen wir durchaus im Widerspruch zu anderen Versorgungsunternehmen wie etwa RWE oder E.on.“

In Ostdeutschland hoffen die Mitarbeiter der Vattenfall-Kraftwerke und -Tagebaue, aber auch die betroffenen Kommunen, dass der Verkauf der gewaltigen Anlagen schnell und reibungslos vonstatten geht. Die Investitionen in die Sanierung alter und in den Bau neuer Kohlekraftwerke sicherten nach der deutschen Einheit in den neuen Bundesländern Zehntausende Arbeitsplätze. Die sieht man jetzt bedroht.

Am Dienstag tauchte ein erster potenzieller Investor auf. „Die Mibrag hätte selbstverständlich Interesse“, sagte ein Sprecher des Unternehmens, das in Sachsen-Anhalt Braunkohlekraftwerke betreibt und Braunkohle abbaut. Mibrag gehört zum tschechischen Energiekonzern EPH. Die osteuropäischen Staaten setzen weit unbefangener als Deutschland weiterhin auf einen hohen Anteil von Kohlekraft im Strommix: In Tschechien wird mehr als die Hälfte des Strombedarfs in Kohlekraftwerken erzeugt, in Polen mehr als drei Viertel. Ein Zukauf von Kohlekraftwerken in Deutschland würde voraussichtlich auch den Stromexport in die östlichen Nachbarländer beflügeln.

Aus Sicht von Greenpeace löst der angestrebte Verkauf der Vattenfall-Beteiligungen das Problem deshalb nicht: „Für den Klimaschutz bringt das gar nichts, man verschiebt das Thema nur auf einen neuen Eigner “, sagte EnergieCampaigner Austrup. „Vattenfall sollte seine Kraftwerke und Tagebaue in Ostdeutschland behalten und dann ein Konzept entwickeln: für den Ausstieg aus der Kohlekraft und für den Ausbau der erneuerbaren Energien.“