Der St. Petersburger André Kowalew hat in Hamburg mit Dovgan Europas größten Importeur für russische Lebensmittel aufgebaut

Hamburg. Eine Bilderbuchkarriere wirft man eigentlich nicht weg. André Kowalew tat es doch. Mit Mitte 20 ist er promovierter Zahnarzt, arbeitet in seiner Geburtsstadt in einer zahnmedizinischen Klinik und steigt zum Abteilungsleiter auf. Ein Traumstart in das Berufsleben – doch Kowalew wollte eine Veränderung. Denn es gab einen gravierenden Makel. „Ein schönes Leben war damals in St. Petersburg nicht möglich“, erzählt der 48-Jährige. „Es war der kriminellste Ort der ehemaligen Sowjetunion.“ Unangenehme Typen in Trainingsanzügen und mit kräftigen Händen prägten das Stadtbild.

Also packt er 1995 seine Koffer, wandert nach Deutschland aus und startet seine zweite Karriere – in der Lebensmittelbranche. Heute beliefert der Hamburger mit seinen 400 Produkten in der Bundesrepublik 20.000 Supermärkte der großen Ketten Rewe, Edeka, Metro und Kaufland, macht einen zweistelligen Millionenumsatz, besitzt 15 Tiefkühllaster und beschäftigt mehr als 100 Mitarbeiter. Kowalew ist einer von vielen Unternehmern in der Hansestadt mit Wurzeln im Ausland, auf die der Verein Unternehmer ohne Grenzen derzeit im Rathaus mit einer Ausstellung aufmerksam macht (siehe Beistück). Doch der Start in der neuen Heimat war für den Russen steinig.

Dass Kowalew in den Norden wollte, war klar. Für die zahnmedizinische Klinik in St. Petersburg hatte er als Abteilungsleiter die Beziehungen zu Lieferanten aufgebaut, viele von ihnen kamen aus und um Hamburg. Doch zunächst war da die Sprachbarriere. Kowalew sprach Englisch, aber Deutsch konnte er nicht. Er meldete sich sofort für einen Sprachkurs an. Und stellte dann fest. „Das größte Problem war, dass ich damals ohne die deutsche Staatsbürgerschaft nicht selbstständig als Zahnarzt arbeiten durfte.“ Nach einiger Zeit als Assistent in einer Praxis merkte er allerdings, dass er als Angestellter nicht sein Geld verdienen wollte. Freunde von ihm, die in St. Petersburg in der Lebensmittelbranche arbeiteten, gaben 1996 den Ausschlag, die Branche zu wechseln. Der Plan: Er liefert in seine Geburtsstadt deutsche Produkte wie Sekt oder Spirituosen. Doch das Geschäft lief nur leidlich.

Ein Jahr später lernt der Jungunternehmer auf einer Messe in Moskau Vladimir Dovgan kennen. „Der war in jeder TV-Show in Russland zu Gast“, sagt Kowalew. „Dovgan war die erste Marke, die sich überhaupt im russischen Markt etabliert hat.“ Der Bekanntheitsgrad des Lebensmittelproduzenten habe in den 90er-Jahren bei mehr als 90 Prozent gelegen. „Vladimir sagte dann zu mir: ,Wir machen das anders. Wir verkaufen russische Waren unter dem Namen Dovgan in Europa.‘“ Kowalew war überzeugt davon, dass es dafür einen Markt gab, und wurde vom Exporteur zum Importeur.

Im September 1997 gründete er am Glockengießerwall mit seinem Kollegen Victor Strizhitskiy die Dovgan GmbH, an der er zehn Prozent der Anteile hielt. Doch nur sechs Monate später drohte das Aus. Der russische Mutterkonzern, dem die restlichen 90 Prozent gehörten, konnte Rechnungen nicht mehr zahlen. Zwar habe das Unternehmen pro Monat in US-Dollar zweistellige Millionenumsätze erzielt, doch die Werbekosten seien aus dem Ruder gelaufen, sagt Kowalew. Ein Finanzinvestor übernahm den Mutterkonzern, Kowalew und Strizhitskiy sicherten sich die Rechte an der Marke Dovgan für Deutschland, Österreich und die Schweiz. Gelistet wurden ihre Produkte zunächst aber nur in „ethnischen Märkten“, wie Kowalew sie nennt. Also zum Beispiel beim türkischen Krämer an der Ecke.

„Im Oktober 1999 haben wir dann unser letztes Geld zusammengekratzt und sind zur Lebensmittelmesse Anuga nach Köln gefahren“, sagt Kowalew. Auf selbst zusammengezimmerten Regalen boten sie alle ihre Produkte an, von Fischkonserven und Kaviar über eingelegte Gurken bis zu Marmelade und Cerealien. Die Bielefelder Kette Jibi sah dafür eine Zielgruppe in ihren knapp 100 Läden. Einen Tag später wollte auch Marktkauf mit rund 180 Filialen die Dovgan-Produkte verkaufen. Es war der Durchbruch für das junge Unternehmen. Und er kam genau zur richtigen Zeit. Kowalew und seine Familie konnten durch eine Gesetzesänderung die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen. Nun hätte er hierzulande als selbstständiger Zahnarzt arbeiten dürfen. „Doch ich hatte schon die Verantwortung für fünf Mitarbeiter. Daher habe ich mich von meinem Traumberuf verabschiedet.“

Neben russischen bietet Dovgan auch polnische und adriatische Produkte an

Für den Lebensmittelgroßhändler ging es nun bergauf. Größere Räume wurden bezogen, 2001 ging es aus der Innenstadt nach Billbrook, um das Lager direkt an der Zentrale zu haben. Vier Jahre später wurde der Großhändler zum Produzenten. „Die Osteuropäer sind Fleischesser“, sagt Kowalew. Gefrostete Teigtaschen mit einem hohen Fleischanteil würden in keinem russischen Haushalt fehlen. Dovgan vergab den Herstellungsauftrag erst an eine Fremdfirma in Rostock. Als der Eigentümer verkaufen wollte, übernahmen Kowalew und Strizhitskiy die Firma. Seit 2007 wird dort unter der in Russland bekannten Marke Plombir auch Eis hergestellt. Heute geht die Stückzahl pro Jahr in die Millionen. Seit diesem Sommer gehört die Eismarke auch zum Sponsorenpool des Fußball-Bundesligaklubs Mainz 05. In dem Werk in Rostock sind 50 Mitarbeiter beschäftigt, die Tiefkühlsparte steuert ein Drittel zu den Umsätzen von Dovgan bei.

Nach 29 Millionen Euro Umsatz im vergangenen Jahr peilen die Billbrooker in diesem Jahr in der Bundesrepublik 35 Millionen Euro an. „Wir wachsen jedes Jahr um 20 bis 30 Prozent in Deutschland“, sagt Kowalew, der aber trotz der hohen Wachstumsraten sehr bodenständig wirkt. „Die EU-Erweiterung um Länder wie Polen, Kroatien und die Baltenstaaten haben uns geholfen.“ Durch den liberalisierten Arbeitsmarkt kämen mehr Einwohner dieser Länder in die Bundesrepublik, die auch hier ihre bekannten Produkte kaufen möchten. So bietet Dovgan seit 2012 auch rund 120 polnische Spezialitäten an, ein Jahr später kam das „adriatische Sortiment“ mit ebenso vielen Artikeln aus dem ehemaligen Jugoslawien hinzu. Zudem profitiere das Unternehmen davon, dass die Deutschen ihr Konsumverhalten hin zu ausländischen Produkten öffnen.

Die Krise zwischen Russland und der Ukraine belaste die Geschäfte nicht nachhaltig, sagt Kowalew. Zwar seien die Transportkosten in Russland teurer geworden, oder es gebe teilweise Engpässe beim Nachschub von Krimsekt. Schwerer wiege aber das moralische Dilemma. „Das Image der Russen hat stark gelitten. Das ärgert mich. Ich komme noch aus Zeiten der Sowjetunion und unterscheide nicht zwischen Russen und Ukrainern.“ Dass die Menschen dort jetzt leiden müssen, mache ihn traurig. Um wenigstens ein wenig Not zu mildern, unterstützt der Familienvater daher mit Geld zwei ukrainische Kinder, die ihre Eltern verloren.

Viel gewonnen hat hingegen Kowalew mit seinem mutigen Schritt vor fast 20 Jahren. Seiner neuen Heimatstadt ist er treu geblieben, auch wenn vor einigen Jahren Magdeburg die expandierende Firma mit einem günstigen Grundstück lockte. Er sprach offen mit der Hamburgischen Wirtschaftsförderung darüber, und die half ihm. Er fand ein neues Grundstück am Zinkhüttenweg, baute eine neue Zentrale, in der heute 55 Mitarbeiter beschäftigt und 5000 Quadratmeter Lagerfläche vorhanden sind. Stets habe er die Unterstützung der Stadt, von Institutionen wie der Handelskammer und seiner Hausbank Haspa erhalten oder die Wertschätzung von Unternehmern wie dem bekannten Gastronomen Eugen Block gespürt. Kowalew: „Ich habe mich nie wie ein kleiner Russe aus St. Petersburg gefühlt.“ Und wenn er von seiner Wohnung in Winterhude durch den Stadtteil geht, fühlt er sich in seine Geburtsstadt versetzt. „Das Wasser und die tollen Gebäuden erinnern mich an St. Petersburg.“