Thomas Straubhaar, scheidender Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts, bilanziert die ökonomische Entwicklung der vergangenen 15 Jahre. Er fordert, mehr Geld in Bildung zu investieren

1. Rückblick auf 1999

Deutschland vor 15 Jahren: eine Gesellschaft voller Selbstzweifel. Eine Volkswirtschaft unter Kritik. Eine neue rot-grüne Bundesregierung, die das Regieren erst lernen musste. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik war 1998 eine Bundesregierung komplett abgewählt worden. Das letzte Kabinett Kohl wollte das Land nicht mehr verändern, sondern nur noch verwalten. Es ging nicht mehr um Modernisierung oder gar eine Umsetzung von Visionen, sondern nur noch um Machterhalt. Der verzweifelte Appell des Bundes-präsidenten Roman Herzog, „durch Deutschland muss ein Ruck gehen“ verhallte folgenlos. Ebenso wirkungslos blieben die Erkenntnisse des Sachverständigenrats, dessen im November 1999 vorgelegtes Jahresgutachten den schlichten, aber zutreffenden Titel trug: „Wirtschaftspolitik unter Reformdruck“.

Deutschland war zur Jahrhundertwende nicht mehr Europas Lokomotive, sondern der Bremserwagen. Der Wachstumstrend des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) lag bei 1,5% pro Jahr – rund ein halbes Prozent weniger als der Durchschnitt der damaligen 15 EU-Länder. In den USA hingegen wuchs das reale BIP jährlich um vier Prozent. Grund dafür war die „New Economy“. Digitalisierung und Internet sorgten für gigantische Produktivitätsfortschritte im amerikanischen Dienstleistungssektor. Demgegenüber galt die (deutsche) Industrie als Auslaufmodell.

Vor allem aber war die Arbeitslosigkeit zur Geißel geworden. Mehr als vier Millionen Menschen waren 1999 als arbeitslos registriert. Dazu kam eine verdeckte Arbeitslosigkeit von zwei Millionen, sodass insgesamt sechs Millionen Menschen, die eine Beschäftigung suchten, keine Arbeit fanden. Seit dem Wirtschaftswunder galt in Deutschland das Treppenstufenprinzip: in schlechten Zeiten schnellte die Beschäftigungslosigkeit zwei Tritte nach oben und an guten Tagen gelang es lediglich, eine Stufe zurückzusteigen. So stieg die strukturelle Sockelarbeitslosigkeit immer weiter. Auf dem höchsten Stand waren 2005 über fünf Millionen Arbeitslose registriert.

Pessimismus und Zukunftsängste dominierten das deutsche Lebensgefühl am Anfang des 21. Jahrhunderts. Angst vor der Globalisierung und Sorge vor dem Strukturwandel prägten die wirtschaftspolitischen Diskussionen. Die Stimmung war noch schlechter als die ohnehin schon kritische Lage. Provokante Bücher mit Titeln wie „Ist Deutschland noch zu retten?“ oder „Deutschland – der Abstieg eines Superstars“ fanden reißenden Absatz.

2. Blick auf die Gegenwart

Deutschland heute hat mit dem Zustand vor 15 Jahren nichts mehr gemeinsam. Aus dem kranken Mann Europas ist das Kraftwerk der Weltwirtschaft geworden. Agenda 2010, die Lohnzurückhaltung der Belegschaften und die Leistungsfähigkeit des Mittelstands haben die deutsche Wirtschaft in höchstem Maße wettbewerbsfähig gemacht. Made in Germany ist und bleibt auf den globalisierten Absatzmärkten das Maß aller Dinge.

Die USA gelten nicht mehr als großer Meister und Deutschland als tumber Lehrling. Im Gegenteil: „La Mannschaft“ ist weltweit zum Vorbild für Teamgeist, Kompetenz und Leistungsfähigkeit geworden. In den USA wird das „German Miracle“ mit Bewunderung studiert. Deutsche würden nicht reden, sondern handeln. Besonders vom neudeutschen Pragmatismus (den man auch als „Merkelism“ mit dem Namen der Bundeskanzlerin etikettiert) ist man beeindruckt: Entstehe in Deutschland ein Problem, werde es schnell analysiert und dann rasch gelöst. Die symbiotische Verbindung industrieller Kernkompetenzen mit pfiffigen innovativen Ideen und kundenfreundlichen Dienstleistungen wird zum neuen deutschen Markenzeichen.

Hamburg steht exemplarisch für die deutsche Erfolgsgeschichte der letzten 15 Jahre. Keine andere Region nördlich der Alpen hat dermaßen von Globalisierung und der Erweiterung der Europäischen Union nach Osten profitiert wie die Metropolregion. Aus einer peripheren Randlage südlich des Nordpols wurde das Zentrum Europas. Galt der Hafen lange Zeit als Sorgenkind ohne große Zukunft, ist er mittlerweile auch für weite Teile Osteuropas das Tor zur Welt und insbesondere zur europäischen Drehscheibe für den Handel mit Südostasien geworden.

Neben Hafen- und Seeverkehrswirtschaft hat die Metropolregion Hamburg auch beim Flugzeugbau enorme Dynamik entwickelt. Dank des Steigflugs der Luftfahrtindustrie als Folge der Globalisierung entstanden in und um Hamburg Zigtausende attraktive Jobs – auch bei Zulieferfirmen. Oft kam es zu gegenseitig positiven Querverbindungen – beispielsweise, wenn neue Technologien, Materialien oder Verfahren nicht nur im Flugzeugbau zur Anwendung gelangten, sondern auch bei Schiffen, Autos oder im Maschinenbau eingesetzt wurden, etwa wenn es um den Kabinenbau oder darum ging, zu kleben, statt zu schweißen.

Die (leider gescheiterte) Bewerbung für die Olympischen Spiele 2012 sorgte genauso für einen Mentalitätswandel wie das Konzept einer wachsenden Stadt. Der seit genau 50 Jahren anhaltende Trend des Bevölkerungsschwunds konnte gestoppt und mittlerweile umgedreht werden. Nach dem Tiefpunkt 1985 – mit nur noch leicht mehr als anderthalb Millionen Einwohnern (nach einem Höchststand von 1,86 Millionen 1964) und wenig mehr 1999 (mit 1,7 Millionen) – nähert sich die Zahl der Menschen, die in Hamburg leben, langsam wieder dem alten Rekordwert an. Ein klares Signal dafür, wie attraktiv zum Leben, Wohnen und Arbeiten die Metropolregion wieder ist – auch für (junge) Zuwandernde von außen.

3. Ausblick

Ähnlich wie am Ende der langen Amtszeit von Helmut Kohl beginnt sich in Deutschland das Tempo der stetigen Modernisierung der politischen und wirtschaftlichen Strukturen zu verlangsamen. Und genauso wie damals geht es der Regierung immer weniger um Prinzipien oder gar visionäre Zukunftskonzepte. Vielmehr verfolge Angela Merkel die Absicht, „Macht zu sammeln, um sie zu haben, nicht um sie zu nutzen“, so Dirk Kurbjuweit.

Nach nunmehr fast neun Jahren in der dritten Amtsperiode ist für die Bundeskanzlerin das Regieren zur Routine geworden. Es läuft – scheinbar – auch ohne große Veränderungen oder gar strukturelle Reformen gut. Mehr noch: zur allgemeinen Wohlfühlstimmung gehört, dass die schwarz-rote Koalition beschlossen hat, den Älteren von heute ein Geschenk zu machen, das die Kindeskinder von morgen werden finanzieren müssen. Gegen alle ökonomische Vernunft wurde das Rentenalter nach unten statt nach oben verändert. Dem Irrglaube folgend, dass man sich das ja wohl werde leisten können, weil alles so rundlaufe.

Das heute von Bundes- wie auch Landesregierungen am sträflichsten vernachlässigte Zukunftsfeld ist die Bildung. Verdichtet man alle Faktoren, die den Wohlstand einer Gesellschaft bestimmen, zeigt sich im Kern eine Erkenntnis: Es sind nicht gottgegebene Verhältnisse wie geografische Lage, Klima oder Bodenschätze, die für wirtschaftlichen Erfolg entscheidend sind. Die Fähigkeiten von Menschen, mit Herausforderungen konstruktiv umzugehen, sachgerechte Lösungen zu entwickeln und diese nachhaltig um- und durchzusetzen, bestimmen weit stärker, ob eine Gesellschaft reicher wird oder arm bleibt.

Es ist erschreckend, dass die großen Projekte der Bundesregierung Absichten verfolgen, die sich an Verhältnissen der Vergangenheit orientieren. Das ist sowohl bei der „Rente mit 63“ wie auch dem Mindestlohn der Fall. Damit wird unterschlagen, dass im 21. Jahrhundert die Menschen immer gesünder bleiben, älter werden und länger arbeiten sollten und auch wollen und eben auch länger und stets von Neuem weitergebildet werden müssen.

Genauso wird mit einem staatlichen Mindestlohn unterstellt, dass Löhne politisch festgelegt werden könnten und nicht durch die Produktivität bestimmt werden. Wenn Globalisierung und technologischer Fortschritt dazu führen, dass entweder andere andernorts oder Maschinen und Roboter hierzulande billiger produzieren oder dass altes Wissen abgewertet wird, sind staatliche Mindestlöhne eine nicht nachhaltige Symptompolitik. Richtig wäre es, wiederum bei der Bildung anzusetzen und Beschäftigte durch gezielte Fort- und Weiterbildung oder Umschulung produktiver zu machen, sie so in die Lage zu versetzen, anspruchsvollere Tätigkeiten auszuüben, die auch anständig bezahlt werden.

Es ist ein Irrweg, wenn die Große Koalition das Reformrad zurück anstatt nach vorne dreht. Die Politik sollte die Weichen in Richtung Zukunft und nicht nach der Vergangenheit stellen. In der Wirtschaft ist es wie in der Landwirtschaft: Wer morgen ernten will, muss heute aussäen. Wer in der Gegenwart nicht genügend investiert, wird in Zukunft weniger produktiv sein als die Konkurrenz und damit geringere Erfolgschancen haben.

An der Stelle muss auch ein tragischer Denkfehler korrigiert werden. Wer staatliches Geld in die Finanzierung von staatlichen Wohltaten steckt anstatt in Bildungsinvestitionen hat am Ende weniger von allem. Je geringer die Wettbewerbsfähigkeit von Belegschaften ist, desto geringer fallen die Einkommen aus, die besteuert werden können, um damit Renten oder Sozialtransfers bezahlen zu können. Anders herum gilt, dass die Bildungsausgaben von heute die Produktivität von Belegschaften erhöht und somit die internationale Wettbewerbskraft deutscher Firmen stärkt, was die Voraussetzung für die nachhaltige Finanzierung staatlicher Ausgaben schafft.

Gute Bildung kostet viel Geld. Aber schlechte Bildung ist noch viel teurer. Denn gute Bildung ist die Voraussetzung für Einzelne, besser zu verdienen, und die wirkungsvollste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. Vor allem aber ist sie Bedingung für eine nachhaltige Weiterentwicklung des Teams Deutschland, das auf gut qualifizierte, fähige und leistungswillige Mitspieler auf allen Positionen setzen muss. Nur mit mehr Bildung für alle wird Deutschland seinen Platz an der Weltspitze auch in Zukunft behaupten können.