Teil 5: Uwe Kaspereit verkauft seit mehr als 25 Jahren in Hoheluft Eisen- und Haushaltswaren. Er hat ein bewegtes Leben hinter sich, saß sogar in der DDR im Gefängnis

Meistens wird er Herr Harms genannt. Selbst von Stammkunden, die ihn schon jahrelang kennen. Die eigentlich wissen, dass er anders heißt, ihn aber trotzdem mit „Herrn Harms“ ansprechen. So wie schon seinen Vorgänger. Und dessen Vorgänger. Den richtigen Herrn Harms. Den Gründer von Eisen- und Haushaltswaren Harms.

Uwe Kaspereit, 56, mag es, wenn er Herr Harms genannt wird. Weil es zeige, wie verbunden sich die Kunden mit dem Geschäft fühlen. Und mit dem Namen Harms. Es ist ein Name, der nicht nur für ein Unternehmen steht. Sondern für Tradition. Werte. Für Nachhaltigkeit und Fairness. Klingt ein wenig altmodisch. Fast verstaubt. Doch für Uwe Kaspereit ist diese Unternehmensphilosophie alles andere als überholt. Sondern wichtiger als je zuvor. Wichtig, zum Bestehen. Überleben. „Sonst würde es uns schon lange nicht mehr geben“, sagt Uwe Kaspereit. Sonst hätte er nicht gegen Onlinekonzerne und Baumarktketten bestehen können, die Rabattschlachten überleben können. Sonst hätte er schließen müssen. So wie die vielen anderen Eisen- und Haushaltswarengeschäfte, die es vor zehn bis 15 Jahren in Hoheluft noch gab. Ihre Namen hat Uwe Kaspereit vergessen.

Schrauben, Schlitten, Schneeschieber. Mülleimer, Messer, Maschendraht. Scheren, Schalter, Schlauchklemmen. Besen, Bügeltische, Blumenkästen. Dübel, Dichtungen, Duschköpfe. Kochlöffel, Kabelschellen, Kaffeekannen. Leitern, Laubharken, Lüsterklemmen. Gartenschläuche und Glühlampen. Pinsel und Polsternägel. Mausefallen, Muttern. Krampen. Nudelhölzer.

Eisenkrämer. So würde Uwe Kaspereit sein Geschäft nennen, wenn er die 4000 verschiedenen Artikel mit einem Wort beschreiben müsste. „Bei uns bekommen Sie, was Sie schon immer gesucht haben“, steht auf der Homepage von www.eisenwaren-harms.de. Seit Kurzem ist das Unternehmen auch im Internet, sogar bei Facebook. Doch einen Computer im Büro hat Uwe Kaspereit trotzdem nicht. Sein Büro, das ist ein Hinterzimmer im Laden. Abgetrennt durch einen Türvorhang aus den 1970er-Jahren. Plastikstreifen in Braun, Weiß, Beige. In der Ecke steht ein Wasserkocher, auf dem Tisch eine Packung Frühstückskekse. Seit kurz vor neun ist Uwe Kaspereit im Laden, bis 19 Uhr bleibt er. Den Bürokram macht er abends zu Hause, WLAN im Laden hat er erst seit Kurzem. Kundenbestellungen notiert er mit der Hand auf einen Zettel, den er an eine Korkwand pinnt. Die Abläufe modernisieren? Automatisieren? „Ich sag immer: Never change a winning team“, antwortet Uwe Kaspereit und meint: Warum etwas ändern, das funktioniert. Das sich bewährt hat. Das läuft. „Die Leute sagen mir immer wieder, dass ich den Laden modernisieren muss. Aber ich glaube, dass genau das unseren Charme ausmacht“, sagt er. Er hält nichts von Mainstream. Von Konformität. Will nicht einer von vielen sein, in der Masse untergehen. „Meine Devise war immer, dass wir unser eigenes Ding machen und uns damit über die Zeit retten. Dann sind wir irgendwann Kult.“

Sein eigenes Ding machen. Türschlösser einbauen, auch wenn er dafür nichts berechnet. Etwas mal kostenlos nach Hause liefern, obwohl es unwirtschaftlich ist. Sich Zeit für eine ausführliche Beratung nehmen, auch wenn es finanziell nichts bringt. Und Nägel einzeln und nach Gewicht verkaufen. Zum Beispiel 100 Gramm für 90 Cent. „Uns geht es nicht um das schnelle Geschäft, sondern um Nachhaltigkeit“, sagt Uwe Kaspereit. Nachhaltigkeit. Dieses Wort benutzt er immer wieder. Weil die Kunden nicht nur einmal zu ihm kommen sollen, sondern mehrmals. Und das geht nur, wenn sie sich fair behandelt fühlen. Zufrieden sind. „Dann kaufen sie beim nächsten Mal vielleicht nicht nur ein paar Schrauben, sondern auch einen Kochtopf oder Schneeschieber bei uns“, sagt Kaspereit. Seine Devise: „Ich behandele jeden Kunden so, wie auch ich behandelt werden möchte.“ Das macht ihn aus. Das macht den Laden aus.

Es ist ein Laden, der jeden Wirtschaftsprüfer vor ein Rätsel stellt. Ein Laden, der nach den Gesetzen der Betriebswirtschaft gar nicht existieren dürfte. Und es doch tut. Und das seit 81 Jahren schon. 1933 wurde das Eisenwarengeschäft vom Hamburger Unternehmer Gustav Harms in Rothenburgsort gegründet. Nachdem es jahrelang gut lief, wurde das Geschäft im Zweiten Weltkrieg vollkommen zerstört. Das weiß Uwe Kaspereit aus Erzählungen und alten Zeitungsausschnitten, die er gesammelt hat. Sie hängen an der Wand im Büro, in einem Wechselrahmen. Dort kann man lesen, dass Gustav Harms kurz nach der Zerstörung des Ladens starb und seine Frau Elisabeth das Unternehmen in der Hoheluftchaussee wieder aufbaute. „In einem Holzverschlag“, sagt Uwe Kaspereit und erzählt, wie Elisabeth Harms nach dem Krieg in den Trümmern der Hamburger Meldebehörde einen alten Karteischrank fand und ihn zum Geschäft wuchtete. Der Schrank hatte mehrere Granateinschläge, war an vielen Stellen beschädigt. Er sollte nur als Provisorium dienen, bis es etwas Besseres gibt. Doch es gab nichts Besseres. Bis heute nicht. Weil der Schrank ein Teil des Unternehmens ist. Symbol für den Wiederaufbau. Unersetzlich.

Uwe Kaspereit hat das alles aufgeschrieben. Weil er die Vergangenheit des Unternehmens bewahren will. Weil sie mit seiner eigenen verwoben ist. Er selbst Teil dessen geworden ist, als er das Unternehmen 1988 übernahm. Für 50.000 Mark. Damals stand Eisenwaren Harms kurz vor der Schließung. „Lag aber nicht am Geschäft“, sagt Uwe Kaspereit bestimmt. „Sondern am damaligen Besitzer, der das Unternehmen gekauft hatte.“ Wegen persönlicher Probleme sei der Eigentümer in die private Insolvenz gerutscht und habe den Laden zu Geld machen müssen. Uwe Kaspereit ist damals Angestellter im Laden und kennt das Potenzial des Geschäfts. Als der Konkursverwalter den Wert des Ladens auf 50.000 Mark festsetzt, überlegt Uwe Kaspereit nicht lange. Er geht zur Bank und beantragt einen Kredit. 35.000 Mark sind es, ein bisschen hat er gespart. Sein VW Polo dient als Sicherheit, seine Freundin Petra bürgt für ihn. Er glaubt an das Geschäft, auch wenn es andere nicht tun. Ihn sogar warnen, dass er sich nicht halten kann. Doch Uwe Kaspereit glaubt an die Zukunft von Eisenwaren Harms. Am Tag seiner Hochzeit telefoniert er mit dem Konkursverwalter, drei Jahre später hat er den Kredit abbezahlt. Aus dem Angestellten wird der Inhaber. Aus Uwe Kaspereit wird der neue Herr Harms.

Er mag es, Herr Harms genannt zu werden. Mit einem Namen angesprochen zu werden. Und keine Nummer mehr zu sein. So wie damals, in der DDR. Als Uwe Kaspereit mit 20 Jahren von der Stasi überwacht und schließlich verhaftet wird. Nachdem er einen Ausreiseantrag gestellt hat. Und nachdem er in der Nacht zum 1. Mai Flugblätter verteilt hat. Sechs Stück, handgeschrieben auf rotem Papier, mit politischen Parolen. Drei Monate sitzt er in Untersuchungshaft, acht Wochen davon in Einzelhaft. Die Stille ist am schlimmsten. Und die Verhöre. Verhöre. Verhöre. Die Stasi will alles über ihn wissen. Nur nicht seinen Namen. Er ist der Untersuchungsgefangene Nummer eins. Weil er Bett eins in der Zelle hat. Links, neben der Tür. Für seine Freunde war er immer Kasper, hier ist er nichts. Nur eine Nummer.

Er wird zu neun Monaten Freiheitsentzug wegen der „Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit“ verurteilt, kommt ins Zuchthaus Cottbus. Zusammen mit Republikflüchtlingen, Regimekritikern. Oppositionelle, Bürgerrechtler und Ausreisewillige. Oder „staatsfeindlichen Hetzer“, wie sie genannt werden. Sie alle haben sich mit dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ angelegt und sollen hier zurück auf Linie gebracht werden. Geformt. Geschliffen. Erzogen. Jeder Häftling wird einem Zellentrakt zugeordnet, einem Erziehungsbereich, jeder Erziehungsbereich wird von einem Offizier verantwortet – einem Erzieher. Uwe Kaspereit sitzt im EB 10. Sein Erzieher heißt Leutenant Hofrichter. Das hat er nicht vergessen.

Uwe Kaspereit spricht oft über die Vergangenheit. Weil er sie bewahren will. Weil er Angst vor dem Vergessen hat. Und weil jeder wissen soll, wie es damals war. Wie es war, nach der Haft entlassen zu werden, aber weiter gefangen zu sein. Weil er weiter von der Stasi überwacht wird und strenge Auflagen befolgen muss. Ein Umgangsverbot mit seinen Freunden wird verhängt, ein Freizeitverbot, eine Aufenthaltsbeschränkung. Er darf die Stadt nicht verlassen, muss sich regelmäßig bei der Polizei melden. Weil er weiter an seinem Ausreiseantrag festhält. Weil er nicht erzogen werden konnte. „Das Erziehungsziel beim Strafgefangenen Kaspereit wurde nicht erreicht“, steht in seinem Entlassungspapier. Das hat Uwe Kaspereit Jahre später gelesen, als er nach dem Zusammenbruch der DDR seine Akten eingesehen hat. Als er angefangen hat, sich gegen das Vergessen zu engagieren. Zeitzeuge zu sein, Vorträge zu halten. Im Menschenrechtszentrum Cottbus, das von ehemaligen Gefangenen gegründet wurde, und im Helene Lange Gymnasium, das einmal jährlich einen Zeitzeugentag veranstaltet. Dann erzählt Uwe Kaspereit, wie er nach seiner Entlassung wegen Verletzung der Auflagen erneut verhaftet wird, nach vier Wochen frei kommt, und wieder verhaftet wird. Zum dritten Mal ins Gefängnis muss. Diesmal für 15 Monate. Weil er unter anderem bei einem Fußballspiel war. Weil seine Kollegen ihn bei der Stasi verpfiffen haben.

Er kommt ins Haftarbeitslager Berndshof, am Rande der Stadt Ueckermünde. 25 Häftlinge in einer Zelle. Die anderen nennen ihn Uwe. Die Wärter nur „Strafgefangener Kaspereit“. Diese Bezeichnung hat er bis heute im Ohr. So ruft ihn der Wärter, der ihn an jenem Abend abholt. Ein paar Wochen vor Haftende. Das genaue Datum weiß Uwe Kaspereit nicht mehr. Er weiß nur noch, dass die Blumen draußen zu blühen angefangen haben. Man sagt ihm, dass er verlegt werden soll. Mit einem Gefangenentransporter wird er nach Berlin gebracht, dann nach Chemnitz, das damals Karl-Marx-Stadt heißt. Dort wird er zum ersten Mal wieder mit „Herr Kaspereit“ angesprochen. Dort erfährt er, dass er aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen wird und in die Bundesrepublik übersiedeln kann. Dass er freigekauft wurde, für circa 100.000 Mark, sagt man ihm nicht. Nie. Das erfährt er erst später. Aus Zeitungsberichten. Und Büchern.

Uwe Kaspereit hat mehr zu erzählen als Waren in seinem Laden. Von Auffanglager in Gießen, in das er gekommen ist. Von den 150 D-Mark Begrüßungsgeld. Und von seinem Entschluss, nach Hamburg zu gehen. Weil hier sein Kumpel Jens lebt, der ebenfalls vom Westen freigekauft wurde. Er hat einen sicheren Job in einem Geschäft. Bei Eisenwaren Harms. Als der Geschäftsführer den Laden vergrößern will, holt Jens seinen Freund Uwe mit ins Team. „Wir haben zusammen den Laden geschmissen“, sagt Kaspereit. Er mag den Kontakt zu den Kunden. Den Menschen.

Das war damals so, das ist heute so. Die Menschen sind ihm am wichtigsten. Egal, ob sie Schrauben für ein paar Cent kaufen oder eine Bohrmaschine für mehr als 100 Euro. Egal, ob es Hobbyhandwerker sind, mit denen er fachsimpeln kann, oder Hausfrauen, die seinen Rat brauchen. Rund 140 Kunden hat er am Tag, manchmal auch bis zu 180. „Wir haben Glück, dass wir in einem Wohnquartier mit viel Laufkundschaft sitzen“, sagt Kaspereit. Der Laden ist klein, hat nur 85 Quadratmeter. Ein „Bau und Heimwerkermarkt“ muss mindestens 1000 Quadratmeter beheizte Verkaufsfläche haben. Als „Kleinod im Kampf gegen Ketten“ wird Eisenwaren Harms deswegen von Kunden im Internet bezeichnet. Viele von ihnen kommen nicht mit einem konkreten Wunsch, sondern mit einem Problem. Sie suchen kein Produkt, sondern eine Lösung. Eine Lösung für ihr klapperndes Fahrrad oder den defekten Duschvorhang. Eine Lösung für das Schloss, dass immer klemmt, oder den Nagel, der ständig rausbricht. Uwe Kaspereit hört zu, fragt nach, schlägt Lösungen vor. Wenn es per Ferndiagnose nicht klappt, kommt er selbst vorbei. Wenn eine Mutter mit einem kaputten Kinderwagen kommt, verkauft er ihr nicht einfach eine neue Schraube. Sondern dreht sie selbst herein. Wenn ein paar Kinder einen Kaninchenstall bauen möchten, verkauft er ihnen nicht einfach den Maschendraht, sondern macht mit ihnen gemeinsam die Pläne. Und wenn jemand nicht weiß, welche Schraube er braucht, gibt Uwe Kaspereit ihm einfach verschiedene mit. Was nicht passt, kann zurückgegeben werden. Einfach so, kostenlos. Das gehört für ihn dazu. Das ist sein Markenzeichen. Hört sich utopisch an, betriebswirtschaftlich unlogisch. Ist es aber nicht. Denn das Konzept geht auf.

Die Umsätze steigen, die Kundenzahl auch. Rund zehn Euro gibt jeder Kunde durchschnittlich aus. „Wir verkaufen eher viele kleine Teile als große Waren“, sagt Uwe Kaspereit. Die Margen sind gering, doch Uwe Kaspereit und seiner Familie reicht es. Gerade hat er den Mietvertrag für weitere zehn Jahre unterschrieben. „Wir haben unsere persönlichen Bedürfnisse so angepasst, dass wir davon leben können, was der Laden abwirft“, sagt Kaspereit. Sie sind vor ein paar Jahren aus der Stadt ins Umland gezogen, weil es billiger ist. Sie machen nur eine Woche Urlaub im Jahr, weil sie nicht länger weg können. Und sie helfen alle mit, um Lohnkosten zu sparen. Seit seine drei Söhne aus dem Gröbsten raus sind, arbeitet seine Frau mit im Geschäft. Sie heißt Petra. Meistens wird sie aber Frau Harms genannt.

Hoheluftchaussee 17, Telefon (040) 420 29 16