Konkurrenten aus Asien hängen Unternehmen aus Hamburg und Schleswig-Holstein ab. Es sind nur noch 1206 Innovationen angemeldet. Innovationen sollen einen Vorsprung auf dem Markt bewirken.

Hamburg. Das Herz dreht sich auf dem Bildschirm dem Betrachter entgegen. Rot, gelb und blau leuchten die Kammern und die Vorhöfe, jetzt kommt langsam die Rückseite ins Bild. Dye Jensen steuert auf dem Bildschirm die Darstellung des Organs und zeigt auf die verzweigten Venen: „So detailreich haben wir bewegte Organe bisher nicht abbilden können“, sagt der Leiter der Forschung bei Philips über den neuesten Kernspintomografen. Das Gerät ermöglicht wegen seiner weiten Öffnung des Tunnels, in dem der Patient liegt, die Unterstützung minimalinvasiver Operationen: Während des Eingriffs sieht der Arzt die einzelnen Organe im Körper und bewegt sich nicht mehr im „Blindflug“ durch den Körper.

Rund 100 Forscher arbeiten bei Philips in Hamburg täglich daran, dass der Konzern in der Medizintechnik weiterhin die Nase vorn hat. „Wir sehen uns nicht mehr nur den klassischen Wettbewerbern wie Siemens und General Electric gegenüber“, sagt Dye Jensen. Auch asiatische Konzerne wie United Imaging aus China und Samsung (Korea) drängen neuerdings in den Markt. Die Asiaten heuern weltweit Spezialisten an und locken Talente mit hohen Gehältern. „Wir rechnen schon bald mit Medizintechnik neuer Anbieter“, warnt Jensen.

Philips ist mit seinen Herausforderungen durch ehrgeizige, hungrige Wachstumsländer in der globalisierten Welt kein Einzelfall. Preiswettbewerb gibt es auch in der Autoindustrie, im militärischen Bereich oder bei Lebensmitteln, um die wachsende Weltbevölkerung in ärmeren Ländern zu ernähren. Überleben können Unternehmen aus den westlichen Industriestaaten in diesem Umfeld nur, wenn ihre Visionäre die besten Ergebnisse liefern. Da es in Deutschland an Rohstoffen mangelt, können der Wirtschaft nur Innovationen einen Vorsprung auf dem Markt sichern. Kein Fortschritt bedeutet Rückschritt. Philips beschäftigt allein in Hamburg 100 Wissenschaftler, die Jahr für Jahr etwa 150 Patente liefern. Auch Beiersdorf, Airbus oder Lufthansa Technik gehören zu den Firmen, die in der Entwicklung stark engagiert sind.

Doch die Wirtschaft der Hansestadt kann sich derzeit keiner Vorreiterrolle in Sachen Forschung rühmen. Vielmehr ist die Zahl der Erfindungen an Alster und Elbe zuletzt zurückgegangen. Im vergangenen Jahr reichte Hamburg 741 Patentanmeldungen ein, das waren 20 Anmeldungen weniger als noch 2012. In Schleswig-Holstein ist die Zahl der Ideen sogar deutlich eingebrochen. Nach 516 Erfindungen 2012 wurden im vergangenen Jahr nur noch 465 Patente neu angemeldet. Das nördlichste Bundesland liegt damit im bundesweiten Vergleich im hinteren Tabellendrittel. Nur das Nachbarland Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt wiesen niedrigere Erfindungsquoten auf.

Im Hamburger Raum fehlen die Autokonzerne und Maschinenbauer, welche Regionen wie Baden-Württemberg und Bayern seit Beginn der Industrialisierung die meisten Erfindungen sichern. Doch so reich die Stadt an der Elbe derzeit auch noch sein mag, sie muss sich der Gefahr durch eine Flaute in der Forschung bewusst sein. „Die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie hängt im Wesentlichen von ihrer Innovationstätigkeit ab. Auch 100 Jahre nach den Herren Daimler und Siemens kommt es immer noch auf die Cleverness an“, warnt Thomas Lambusch, Präsident des Arbeitgeberverbandes Nordmetall.

Die Bedrohungen der Zukunftsfähigkeit kämen von unterschiedlichen Seiten. „Unser Erfolg lockt immer mehr Konkurrenz an“, sagte Lambusch, dessen Verband 250 Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie im Norden vertritt. „Die Südeuropäer rappeln sich nach der Euro-Krise wieder hoch und machen mit niedrigen Preisen richtig Druck. Ähnlich die Chinesen, die längst keine verlängerte Werkbank mehr sind, sondern selbst Maschinen, Autos, Flugzeuge entwickeln.“

Ein Blick auf Konzerne wie Nokia, die ihre Vorreiterrolle bei Handys verspielt haben, oder Sony, die nach der Erfindung des Walkman heute nicht mehr an alte Erfolge anknüpfen können, zeigt die Gefahren, denen die Unternehmen in der globalisierten Welt ausgesetzt sind. Daimler hat vor mehr als 100 Jahren das Automobil zwar erfunden, die Firma, welche das erste selbst fahrende Fahrzeug auf der Straße kurven lässt, ist heute aber Google. Das meistverkaufte Auto in Schweden heißt Tesla und stammt aus Kalifornien. Der Elektroflitzer hat im Land der Elche den Golf vom Spitzenplatz verdrängt.

Die gute Konjunktur und historisch niedrige Arbeitslosenzahlen erhöhen für die Wirtschaft in Deutschland gerade heute das Risiko, den hier erreichten Wohlstand für selbstverständlich zu halten. Bundesweit steht beim Anteil der Forschungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt immer noch eine Zwei vor dem Komma. Bis 2020 soll hier zwar die Marke von drei Prozent erreicht sein. Als Wirtschaftslokomotive der EU wäre Deutschland mit seiner innovativen und exportstarken Industrie jedoch durchaus gut beraten, die Ziele höher zu setzen; Südkorea zum Beispiel investiert vier Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die Forschung und Entwicklung. Auch eine Studie der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers (PwC) mahnt Handlungsbedarf an: Viele Wettbewerber im Ausland investierten deutlich mehr in Innovation. „Der deutsche Vorsprung könnte schnell verloren gehen“, sagt Norbert Winkeljohann, der Vorstandssprecher von PwC.

Samsung, die jetzt den niederländischen Konzern Philips auf seinem wichtigsten Wachstumsmarkt angreifen, ist das beste Beispiel für die Leistungskraft der Asiaten, die früher von westlichen Ingenieuren wegen ihres Hangs zum Nachahmen belächelt wurden. Der koreanische Konzern meldete beim europäischen Patentamt 2013 die meisten Schutzrechte an. Samsung brachte es auf 2833 Patente und baute damit seinen Vorsprung weiter aus, auf Platz zwei folgt mit 1974 Anmeldungen Siemens, mit dem dritten Rang muss sich Philips zufrieden geben.

Mit einer großen – und zudem architektonisch spektakulären – Forschungsabteilung ist in Hamburg auch der Hautpflege-Konzern Beiersdorf vertreten. Das DAX-Unternehmen lässt seine Chemiker in Lokstedt in einer metallisch glänzenden, überdimensionierten Hautzelle arbeiten. Die Männer und Frauen in weißen Kitteln züchten in ihren Labors Zellen, um die Wirkung von neuartigen Wirkstoffen auf die Haut zu testen oder experimentieren mit pflanzlichen Wirkstoffen.

Innovationen wie unsichtbare Deos und langlebige Hautpflaster (siehe Beistück unten) sichern dem Konzern mit seinen weltweit 16.000 Mitarbeitern regelmäßig die Aufmerksamkeit der Kunden, die in den Drogerien heute unter Dutzenden Pflegemarken wählen können. Aber auch bei Beiersdorf ist Kämpfen angesagt: Im Geschäftsjahr 2013 hat der Unternehmensbereich Hautpflege 65 Innovationen zum Patent angemeldet, ein deutlicher Rückgang gegenüber 2012, als der Erfinder der Nivea-Creme noch auf 87 schützenswerte Ideen kam. „Der Rückgang der Patentanmeldungen hing mit der organisatorischen Neuaufstellung unserer Forschung & Entwicklung zusammen“, sagte eine Beiersdorf-Sprecherin. Aktuell sei die Tendenz der Patentanmeldungen im Vergleich zum Vorjahr aber wieder steigend. „Wir gehen daher zum Jahresende 2014 von den gewohnten etwa 80 Patentanmeldungen aus.“

Mit zeitweiligen Rückschlägen steht Beiersdorf nicht allein da. Bei Philips sorgte vor Kurzem die Nachricht für Schlagzeilen, dass der Konzern in seinem wichtigsten Bereich Medizintechnik den Vorgaben hinterherläuft. Die weltweit verantwortliche Chefin für die Sparte musste ihren Posten räumen. Für Hamburg sieht das Unternehmen mit Sitz in den Niederlanden derzeit zwar keine unmittelbaren Auswirkungen. Aber eines steht fest: Für Forschungsleiter Dye Jensen und seine Mitarbeiter wird die Zukunft nicht leichter. Der globale Wettbewerb ist für das Überleben des Konzerns ähnlich risikoreich wie eine Operation am offenen Herzen.