Hamburg. Nein, wie der klassische Banker sieht Sebastian Diemer wirklich nicht aus. Der 27-jährige Chef der Hamburger Firma Kreditech trägt Turnschuhe und ein T-Shirt in Knallorange, farblich passend zu den grellen Sonnenbrillen, die am Empfang in der HafenCity als Werbeartikel ausliegen. Beim flüchtigen Gang durch die Zentrale könnte man meinen, nicht bei einem Finanzdienstleister, sondern bei einer der zahlreichen Hamburger Computerspielefirmen gelandet zu sein.
Es gibt einen „Fun Room“ mit Tischtennisplatte, Daddelecke und Kicker. Auf den Gängen parkt eine ganze Batterie von Minirollern, mit denen sich die 140 Mitarbeiter regelmäßig wilde Bürorennen liefern. Anzüge? Krawatten? Fehlanzeige.
Dass es bei Kreditech um mehr geht, als einfach nur Spaß zu haben, zeigt sich vielleicht daran, dass selbst auf der Toilette Sprüche hängen wie „Win or learn, never loose.“ („Gewinne oder lerne, aber verliere niemals.“) Oder auch daran, dass der Chef während eines einstündigen Gesprächs beständig mit seinem Kugelschreiber klackert und redet wie ein Wasserfall. Der Mann steht unter Strom.
Was Diemer zusammen mit seinem Partner Alexander Graubner-Müller macht, kann aus seiner Sicht die Bankenbranche revolutionieren. In jedem Fall aber treibt es schon jetzt den deutschen Datenschützern die Schweißperlen auf die Stirn.
Kreditech vergibt Kleinkredite in Schwellenländern wie Polen, Tschechien, Russland oder Mexiko. Gerade sind Australien und Peru dazugekommen. Es geht um 650 Euro im Schnitt, in Polen auch um 2500 Euro. Zu ordern per Computer oder Smartphone und verfügbar nach wenigen Minuten.
Zustimmung der Kunden vorausgesetzt
Außergewöhnlich ist dabei die Art und Weise, wie das Unternehmen die Kreditwürdigkeit seiner Schuldner beurteilt. „Deutsche Banken greifen dafür traditionell auf die Auskünfte der Schufa zurück, die aber nur Daten aus der Vergangenheit liefern kann“, sagt Diemer. „Wir nutzen hingegen die Spuren, die potenzielle Kreditnehmer im Internet hinterlassen, um deren künftiges Zahlungsverhalten vorherzusagen.“
Dabei gehen die Hamburger sehr weit. Die Zustimmung der Kunden vorausgesetzt, durchforstet Kreditech deren Facebook-Profile, Amazon-Einkäufe, Twitter-Meldungen oder auch Ebay-Bewertungen, um daraus Rückschlüsse auf deren tatsächliche finanzielle Lage und die Wahrscheinlichkeit abzuleiten, ob die Antragsteller ihre Kredite auch zurückzahlen werden. Selbstlernende Algorithmen gleichen dazu bis zu 15.000 unterschiedliche Variablen ab und ermitteln daraus den sogenannten Score des Kunden. Gerade einmal 35 Sekunden soll das im Schnitt dauern.
Erste Informationen über einen potenziellen Kreditnehmer bekommt Kreditech schon durch die Art des Gerätes, die ein Kunde für den Kreditantrag verwendet und die dem Unternehmen automatisch übermittelt wird. Ist es ein modernes Smartphone oder ein altersschwacher Pentium-Computer? Und stimmt diese Information mit dem angegebenen Beruf überein? „Wenn die Kunden es zulassen, erstellen wir auch ein Bewegungsprofil aus ihren Smartphone-Daten“, sagt Diemer. „Jemand, der angibt, von 9.00 bis 17.00 Uhr in einer Bank zu arbeiten, der sich dann aber morgens um 10.00 Uhr mit dem Smartphone in einer Kneipe eincheckt, kann von uns als Kreditnehmer abgelehnt werden.“
Über Amazon verifiziert Kreditech beispielsweise die Adresse eines Kunden. Denn wenn sich jemand regelmäßig Pakete an einen bestimmten Ort senden lässt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er an diesem auch tatsächlich wohnt. Selbst die Einkäufe bleiben vor dem Kreditech-Algorithmus nicht verborgen. Da kann dann ein bestellter Schuldenratgeber schnell zur Abwertung bei der Bonitätsprüfung führen.
„Facebook nutzen wir unter anderem, um zu überprüfen, mit welchen Freunden sich ein Kunde umgibt und welchen sozialen Status diese haben“, sagt Diemer. Gerade neu entwickelt habe man eine semantische Analyse der Korrespondenz der Kunden. Soll heißen: Welche Begriffe verwenden sie im Chat mit Freunden, machen sie grammatikalische Fehler und was sagt dies über die Schicht, aus der ein möglicher Kreditnehmer stammt?
Manchmal finden die selbstlernenden Algorithmen auch Zusammenhänge, auf die die Mitarbeiter von Kreditech selbst nie gekommen wären. So ergab sich beispielsweise eine Verbindung zwischen bestimmten Schriftarten, die auf den Computern von Schuldnern zu finden waren, und einer schlechten Zahlungsmoral. In der Hamburger Zentrale hielt man dies zunächst für einen Fehler, bis sich herausstellte, dass die Schriftarten vor allem von zwei Programmen verwendet und installiert wurden: von einem Casino- und einem Pokerprogramm. Indirekt hatten die Schuldner also eingeräumt, zum Glücksspiel zu neigen.
All diese Sammelwut ist aus Sicht des Kreditech-Chefs legal. Einwänden, er würde den Albtraum des gläsernen Menschen im Netz Realität werden lassen, begegnet er routiniert, er höre sie nicht zum ersten Mal. „Wir halten alle Datenschutzrichtlinien ein, da wir immer die Zustimmung der Kunden zur Einsicht in ihre Facebook- oder Amazon-Konten einholen und auch keine Daten speichern oder weitergeben“, sagt Diemer. Gespeichert werde lediglich der Score, also jene Zahl, die die Kreditwürdigkeit bestimmt.
Der Datenschutzbeauftragte des Landes Schleswig-Holstein, Thilo Weichert, ist hingegen entsetzt über das Verhalten der Firma. „Aus meiner Sicht ist das Geschäftsmodell von Kreditech mit deutschem Datenschutzrecht nicht vereinbar“, sagt der Experte, der sich schon länger mit dem Unternehmen beschäftigt. „Die Menschen, die in die Nutzung ihrer Daten einwilligen, können wohl kaum überblicken, in welcher Weise diese von dem Unternehmen verwendet werden.“ Hier werde die Naivität der Kunden ausgenutzt.
Datenschutz will Firma prüfen
Hamburgs Datenschutzbeauftragter Johannes Caspar kündigte eine Prüfung der Firma an. Auch Caspar stellt infrage, ob die Kunden tatsächlich aus freien Stücken die Nutzung ihrer Daten erlauben: „Wer in einer finanziellen Notlage ist, hat eigentlich keine andere Wahl, als seine Daten herauszugeben.“ Ob wirklich ein Verstoß nach deutschem Recht vorliegt, will Caspar aber noch nicht sagen. Zu prüfen sei unter anderem, ob die Verarbeitung personenbezogener Daten tatsächlich in Deutschland stattfinde.
Wie groß die Geldnot vieler Kreditech-Schuldner sein muss, ergibt sich schon aus den Konditionen, zu denen sie sich bei dem Hamburger Unternehmen ein paar Hundert Euro leihen. Im Schnitt verlangen die Hamburger während der Laufzeit von einem Monat zwischen 15 und 30 Prozent an Zinsen. Aufs Jahr hochrechnen sollte man das besser nicht. Andere Wettbewerber wie etwa die britische Firma Wonga sind aufgrund von 37 Prozent Zinsen pro Monat als Wucherer beschimpft worden.
Auch in Deutschland gab es in der Start-up-Szene heftige Diskussionen, als Sebastian Diemer vor zwei Jahren versuchte, sein Geschäft unter dem Namen Kredito in der Bundesrepublik einzuführen. Schnell wurde jedoch die Finanzaufsicht BaFin auf die noch junge Firma aufmerksam und erwog eine Prüfung. Da aber hatte Diemer die Kreditvergabe schon ins Ausland verlagert. „Da wir in Deutschland keine Kredite vergeben, brauchen wir hier auch keine Banklizenz“, so der Chef.
Die exorbitant hohen Zinsen, die Kreditech im Ausland verlangt, haben auch mit dem hohen Ausfallrisiko zu tun. „In Russland haben wir am Anfang 90 Prozent aller vergebenen Kredite abschreiben müssen, weil wir erst einmal Kredite ohne Scoring zum Anlernen des Modells herausgegeben haben“, sagt Diemer. Dies wurde zu Beginn mit zwei Prozent Zinsen kompensiert – nicht monatlich, sondern pro Tag. Mittlerweile liegt der Kreditverlust in Russland bei 14 Prozent, in Polen nur noch bei sechs Prozent. In Polen werden mit vier bis sechs Prozent Zinsen auch die günstigsten Konditionen angeboten.
In jedem Fall lohnt sich das Geschäft für den Kreditech-Chef. „Nach jetzigem Stand werden wir in diesem Jahr Kredite in Höhe von 80 Millionen Dollar vergeben“, sagt Diemer. In den etablierten Märkten Polen, Spanien, Tschechien und Russland sei man profitabel. Gerade erst haben sich die Investmentgesellschaft Värde Partners und weitere Investoren mit 40 Millionen Dollar bei Kreditech eingekauft. Der Gründer der Onlinespielefirma Bigpoint, Heiko Hubertz, und Rocket-Internet-Chef Oliver Samwer sind schon seit Längerem in dem Unternehmen engagiert. Den aggressiven Internet-Finanzier kennt Diemer noch aus der Zeit, als er selbst bei Rocket arbeitete, jenem Unternehmen, das auch den Onlinehändler Zalando groß machte.
Die neuen finanziellen Mittel will Diemer in die Erschließung neuer Märkte und weitere Mitarbeiter stecken. „Die Dominikanische Republik, Rumänien und Brasilien sind für uns als mögliche neue Märkte besonders interessant“, sagt er. „Wir planen, in einem Jahr mindestens 300 Mitarbeiter zu beschäftigen.“ Und was ist, wenn die Behörden dem Kreditech-Chef doch noch einen Strich durch die Rechnung machen? „Sollten die Bedenken in Deutschland überhandnehmen, können wir immer noch nach San Francisco oder an einen anderen Ort gehen. Unser Geschäftsmodell funktioniert schließlich überall.“
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Wirtschaft