Unternehmen zahlen lieber eine Strafabgabe als umzudenken. Dabei machen viele Firmen gute Erfahrungen mit Beschäftigten, die ein Handicap haben

Hamburg. Sie hat nach ihrer Ausbildung jahrelang nach einer Stelle gesucht. Jung und gut ausgebildet als Bürokauffrau, erhielt sie nur Absagen. „Ich hatte das Gefühl, dass sich die Firmen an meiner fehlenden Berufserfahrung störten“, sagt Sylvia Benesch, die von Geburt an zu 70 Prozent behindert ist. Doch woher sollte die Erfahrung kommen, wenn ihr keiner einer Chance gab? Lag es vielleicht doch an ihrer körperlichen Behinderung?

Ihr Ausbildungsbetrieb hatte sie nach dem Abschluss nur noch ein halbes Jahr lang beschäftigt. Statt Berufserfahrung zu sammeln, absolvierte sie über die Arbeitsagentur weitere Qualifizierungen und Integrationskurse. „Das ist doch kein Ersatz für einen Arbeitsplatz“, sagt Benesch. Aber solche Kurse bringen sie zumindest zeitweise aus der offiziellen Arbeitslosenstatistik. Aber davon hatte Benesch nichts. Knapp sechs Jahre lang gehörte sie zu den rund 3500 behinderten Arbeitslosen in Hamburg, bevor sie bei der Sicherheitsfirma Securitas 2011 eine Anstellung in der Personalabteilung fand. „Von den 3500 kommen wir seit Jahren einfach nicht herunter, obwohl der Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren sehr dynamisch war und die Schwerbehinderten über eine bessere fachliche Qualifizierung verfügen“, sagt Sönke Fock, Chef der Agentur für Arbeit.

Auch eine Zwangsabgabe bringt Hamburg nicht weiter. Über 11.000 Arbeitsplätze in über 4000 Firmen müssten in Hamburg mit Behinderten besetzt sein, sind es aber nicht. Denn Unternehmen mit mindestens 20 Arbeitsplätzen müssen wenigstens auf fünf Prozent der Stellen schwerbehinderte Menschen beschäftigen oder eine Ausgleichsabgabe zahlen, die an das Integrationsamt entrichtet wird. Mit dem Geld werden Hilfen und Arbeitsplatzausstattungen für schwerbehinderte Menschen finanziert. Die Ausgleichszahlungen können bei einer Quote von weniger als zwei Prozent mehr als 3000 Euro pro Kopf und Jahr erreichen. Viele Firmen nehmen das in Kauf.

„Die Umlage ist nicht der Auslöser zum Umdenken“, sagt Matthias Gillmann von der Beratungsinitiative Hamburg (BIHA), die schon über 600 Firmen zur Einstellung Behinderter beraten hat. „Am stärksten wirkt, wenn andere Firmen über ihre Erfahrungen berichten. Denn ein Personalchef glaubt eher einem Kollegen aus einer anderen Firma“, sagt Gillmann. Nach seinen Erfahrungen müssen Barrieren und Vorurteile in den Köpfen abgebaut werden. Zum Beispiel: Behinderte seien nicht kündbar, nicht so leistungsfähig oder es müssen erst umfangreiche Umbauten am Arbeitsplatz vorgenommen werden. „Bei rund 86 Prozent nicht sichtbarer Behinderungen ist das selten nötig“, sagt Fock. „Und wenn, gibt es vielfältige staatliche Unterstützung.“

Hamburg geht jetzt noch einen Schritt weiter. Im Rahmen des Modells Hamburger Budget für Arbeit sollen bis Ende 2014 mindestens 100 Menschen, die bisher in einer Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet haben, in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis integriert werden. Lohnkostenzuschüsse von bis zu 70 Prozent des Bruttogehalts, berufliche Assistenzleistungen und Prämien an Arbeitgeber gibt es als materiellen Anreiz für die Firmen. Für das Programm werden bis zu fünf Millionen Euro aus Mitteln der Ausgleichsabgabe zur Verfügung gestellt.

Auf diesem Weg hat Armand Cori in einer Stationsküche des UKE seinen ersten regulären Arbeitsplatz gefunden. Der 23-Jährige hat eine Lernschwäche und ist körperlich eingeschränkt. Doch das ist kein Hindernis für einen Arbeitsplatz. Er räumt den Geschirrspüler aus, stapelt das saubere Geschirr, bestückt Servierwagen mit sauberen Tellern und zapft frisches Wasser für die Patienten. „Ich bin unabhängiger geworden, verdiene endlich selbstständig Geld wie jeder andere auch“, sagt Cori. Möglich wurde das durch eine Neugestaltung von Arbeitsplätzen. Statt Arbeitsprozesse immer mehr zu verdichten, wurden sie entzerrt. „Die Aufgaben sind wenig komplex und wiederholen sich immer wieder“, sagt UKE-Personalchef Michael van Loo. „Mit diesen klar strukturierten Tätigkeiten werden auch Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht überfordert“, ergänzt Manfred Hanning, Geschäftsführer der UKE- Tochter Klinik Gastronomie Eppendorf (KGE). „Bis Mitte 2014 wollen wir 18 Behinderten im Rahmen des Projekts Hamburger Budget für Arbeit eine feste Stelle bei unseren Service-Töchtern bieten“, sagt van Loo.

Je mehr Zeit verging, desto häufiger konzentrierten sich die Absagen bei Sylvia Benesch auf die fehlende Berufserfahrung. „Wir hatten damit kein Problem, weil die Erfahrung mit jedem Arbeitstag wächst“, sagt Jürgen Wünschmann, Personalleiter bei Securitas. Wenn es das Personalbudget hergibt, soll der Teilzeitarbeitsplatz von Sylvia Benesch zu einer Vollzeitstelle werden. „Das wäre auch in meinem Interesse, denn ich fühle mich voll leistungsfähig“, sagt sie. Das Dienstleistungs- und Sicherheitsunternehmen hat in Hamburg knapp 2000 Beschäftigte. „Wir müssen schon seit Jahren keine Ausgleichsabgabe mehr bezahlen“, sagt Wünschmann. Sechs Prozent der Arbeitsplätze sind mit Behinderten besetzt.

Zwar sind längst nicht alle Stellen in der Sicherheitsbranche für Menschen mit Handicap geeignet. „Aber die moderne Technik und automatische Überwachung machen viele Arbeitsplätze behindertengerecht“, sagt Wünschmann. Geeignet sind etwa Stellen im Empfangsdienst und Werkschutz. Davon profitiert auch der schwerbehinderte Fred Hensel, der im Schichtdienst im Werkschutz bei einem Hamburger Kaffeeröster arbeitet. Er ist seit 2005 durch mehrere Krankheiten schwerbehindert. „Die Arbeit ist überwiegend sitzend und ich kann starre Haltungen während der Arbeit vermeiden“, sagt Hensel. „Das kommt mir sehr entgegen.“ Besonders schätzt er, dass er nach längerer Krankheit einen Arbeitsplatz angeboten bekam, mit dem er weiter am Erwerbsleben teilnehmen konnte.

Wer mit Behinderung arbeitslos wird, wartet lange auf die nächste Chance

Denn wenn Behinderte erst einmal arbeitslos werden, haben sie es deutlich schwerer, wieder einen Job zu finden. „Im Vergleich zu Arbeitslosen ohne Handicap dauert ihre durchschnittliche Arbeitslosigkeit 13 Wochen länger“, sagt Fock. 77 Wochen müssen die Behinderten im Schnitt warten, bis sie eine neue Anstellung finden. Langzeitarbeitslosigkeit und Behinderung werden zu einem Stigma. „Hinzu kommt die Barriere in den Köpfen bei den Personalverantwortlichen“, sagt Gillmann. Sie sorgen sich nicht nur um Leistungsfähigkeit und mehr Krankentage der Behinderten, sondern auch um die Akzeptanz in den Abteilungen. „Mit Praktika und Probezeit wie bei jedem anderen Arbeitnehmer lässt sich das testen“, sagt Fock. Meist sind die Erfahrungen überraschend gut.

Für das Hamburger Unternehmen Fehrmann Metallverarbeitung ist es kein Problem, Behinderte einzustellen. „Wir praktizieren das seit vielen Jahren und es klappt deshalb so gut, weil wir ganz normal mit ihnen umgehen“, sagt Jan Hoffmann von Fehrmann. Die Firma fertigt spezielle Fenster und Türen für Schiffe sowie Gussteile für den Maschinen- und Anlagenbau. Von 38 Mitarbeitern sind drei behindert. Damit wird die Quote von fünf Prozent mehr als erfüllt. Die Behinderten arbeiten dort, wo man es nicht gleich vermutet: in der Gießerei und der Fräserei. Einer baut die Sandformen für die Gießerei. „Er kann täglich sehen, was er geschafft hat“, sagt Hoffmann. „Das ist wichtig für ihn.“ Rund 3500 arbeitslose Behinderte in Hamburg warten noch auf eine ähnliche Chance.