Die Regierung will den abschlagsfreien Einstieg in den Ruhestand erleichtern. Hamburgs Firmen reagieren sehr unterschiedlich

Hamburg. Bruno Gailing ist einer der Ersten, der die Rente mit 63 nutzen kann. Wenige Tage nachdem das neue Rentenpaket der Bundesregierung am 1. Juli in Kraft treten soll, wird er 63 Jahre alt. 45 Jahre Beitragszahlungen als Voraussetzung für den abschlagsfreien Ruhestand schafft er spielend. „1967 habe ich meine Lehre als Elektroinstallateur begonnen“, sagt der Projektleiter beim Hamburger Industriedienstleister Franke + Pahl. „Ich war nicht einen Tag arbeitslos oder länger krank.“ Den Ruhestand mit 63 nach 47 Beitragsjahren findet er verdient. Ohne die neue Regelung hätte er erst mit 65 ohne finanzielle Einbußen in Rente gehen können (siehe Beistück). Ende des Jahres will er aus der Firma ausscheiden, in der er mehr als zwei Jahrzehnte gearbeitet hat.

Auf viele solcher Entscheidungen müssen sich die Unternehmen in den nächsten Monaten einstellen. Folgt man den Wirtschaftsverbänden, ist die Lage dramatisch. „Wir verlieren die besten Leute. Das ist vor dem Hintergrund unserer Demografie schlichtweg Wahnsinn“, sagt Lutz Goebel, Präsident des Verbands Die Familienunternehmer. Als „natürlich kontraproduktiv“ bewertet der Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) das Rentenpaket. Auch aus dem Mittelstand gibt es heftige Kritik: „Die Rente mit 63 ist ein teurer Fehler und setzt ein völlig falsches Signal“, sagt Volker Tschirch, Hauptgeschäftsführer des AGA Unternehmensverbands, der 3500 Groß- und Außenhändler aus den fünf Küstenländern vertritt. 72,5 Prozent der Mitgliedsfirmen lehnen die Rente mit 63 ab, wie aus einer Umfrage des Verbands hervorgeht, die dieser Zeitung exklusiv vorliegt. „Eine neue Frühverrentung verschärft den Fachkräftemangel gerade im Mittelstand“, befürchtet Tschirch.

Doch bei großen Hamburger Unternehmen herrscht eher Gelassenheit, wie eine Umfrage des Abendblatts zeigt. Obwohl kaum noch gravierende Änderungen am Rentenpaket zu erwarten sind, will Jungheinrich erst noch das Gesetzgebungsverfahren abwarten. „Erst dann können wir uns sinnvoll zum Thema äußern“, sagt ein Unternehmenssprecher. Das Abendblatt wollte von den Firmen wissen, wie sie die Auswirkungen der Rente mit 63 für ihr Unternehmen beurteilen, wie der vorzeitige Personalverlust ausgeglichen werden kann oder ob ein frühzeitiges Ausscheiden älterer Arbeitnehmer eher gelegen für die Personalplanung kommt.

Bei der Optikerkette Fielmann spielt das Thema angesichts eines Durchschnittsalters von 34 Jahren der mehr als 16.000 Beschäftigten „nur eine untergeordnete Rolle“, wie Firmensprecher Matthias Branahl sagt. Eine Ausbildung bei dem Unternehmen ist gefragt. Jährlich bewerben sich mehr als 10.000 junge Menschen um eine Lehre. Rund jeder Zehnte bekommt die Chance dazu. Natürlich gibt es bei Fielmann auch Mitarbeiter, die die Rente mit 63 in Anspruch nehmen können, aber ihre Zahl ist sehr überschaubar. „Wir werden dann für alle Beteiligten eine gute Lösung finden“, sagt Branahl.

Der Kupferproduzent Aurubis setzt ebenfalls auf ein umfangreiches Programm zur Fach- und Nachwuchskräftesicherung. Vorzeitige Abgänge bei seinen Ingenieuren erwartet das Unternehmen nicht. „45 Berufsjahre sind durch die längeren Ausbildungszeiten gar nicht erreichbar“, sagt Firmensprecher Matthias Trott. Das gelte auch für andere Berufsgruppen. Eher fürchtet man beim Maschinenbauer Körber AG, ältere Fachkräfte vorzeitig zu verlieren. „Das möchten wir gerne vermeiden“, sagt eine Unternehmenssprecherin. „Über die konkreten Auswirkungen verschaffen wir uns gerade einen Überblick.“ Die Hamburger Sparkasse hat ihre Personalstrategie schon auf die zukünftigen Herausforderungen ausgerichtet und bereits Erfahrungen mit einem frühzeitigen Ruhestand gesammelt. „Unser Tarifvertrag bietet grundsätzlich die Möglichkeit, bereits ab 61 Jahren in den Vorruhestand zu gehen, um dann ab 63 Jahren Rente zu beziehen“, sagt Elisabeth Keßeböhmer, Personalchefin der Haspa. Viele Mitarbeiter würden sich trotz der damit verbundenen Rentenabschläge für einen vorzeitigen Ruhestand entscheiden. „Das berücksichtigen wir ohnehin in der Planung“, sagt Keßeböhmer. „Die Rente mit 63 hat deshalb für uns keine übermäßigen Auswirkungen.“

Für Rudolf Hickel von der Universität Bremen geht es bei den Protesten der Wirtschaftsverbände mehr ums Prinzip als die konkreten Auswirkungen auf die Firmen. „Sie sehen das Prinzip einer längeren Lebensarbeitszeit verletzt, obwohl wirklich nur wenige mit 63 Jahren Jahren in die vorgezogene Rente gehen können.“ Denn das Einstiegsalter in den Ruhestand wird für jeden Jahrgang ab 1953 wieder um zwei Monate angehoben. So kann der Jahrgang 1958 erst mit 64 statt 63 Jahren in den abschlagsfreien Ruhestand. „Viele können auch nicht bis 65 oder 67 Jahre in ihren Berufen arbeiten, und die Unternehmen haben bis heute keine wirkliche Lösung für alternative Arbeitsplätze“, sagt Hickel. Insofern bringe das Rentenpaket eine gewisse Entlastung.

Von den befragten größeren Firmen in Hamburg sieht nur die Hochbahn gravierende Auswirkungen: „Zwei Drittel der Mitarbeiter im Betriebsdienst erreichen die 45 Beitragsjahre für die Rentenversicherung“, so Hochbahn-Sprecher Christoph Kreienbaum. Nachdem das Gesetz beschlossen wurde, soll die Zahl derjenigen Mitarbeiter ermittelt werden, die den vorzeitigen Ruhestand in Anspruch nehmen wollen. „Wir werden dann auch die Anstrengungen zur Gewinnung neuer Mitarbeiter verstärken“, sagt Kreienbaum.

Nach der Umfrage bei den Groß- und Außenhändlern in Norddeutschland befürchten 62,5 Prozent der Firmen den Verlust von Fach- und Spitzenkräften. Ein gutes Drittel hat damit keine Probleme. Die generelle Ablehnung mit über 70 Prozent ist damit größer als die erwarteten negativen Auswirkungen. 60 Prozent der Personalchefs sehen ein bis drei Prozent ihres Personals von der Rente mit 63 betroffen. „Schon aufgrund der Größe der befragten Firmen gehen wir davon aus, dass die Personalchefs einen guten Überblick über mögliche vorzeitige Abgänge in die Rente haben“, sagt AGA-Sprecher Martin Schnitker. Rund 70 Prozent der befragten Firmen haben bis zu 100 Mitarbeiter. Nur 7,5 Prozent der Unternehmen halten acht bis zehn Prozent ihres Personals von der Rente mit 63 betroffen. 18 Prozent der Firmen kommt die Rente mit 63 sogar gelegen, weil sie einen geplanten Stellenabbau erleichtert.

Beim Industriedienstleister Franke + Pahl sind zehn bis zwölf Mitarbeiter Kandidaten für einen vorzeitigen Ruhestand. Das sind knapp zwei Prozent der Belegschaft. „Mehr als die Hälfte von ihnen wird sicherlich die Rente mit 63 nutzen“, sagt Oliver Franke geschäftsführender Gesellschafter von Franke + Pahl. Einer von ihnen ist Bruno Gailing. „Menschlich kann ich seine Entscheidung verstehen“, sagt Franke. „Aber wir werden sehr erfahrene Mitarbeiter verlieren, die kaum zu ersetzen sind, wo wir doch schon keine Elektriker finden.“ Ein schrittweiser Ausstieg aus dem Unternehmen mit verkürzter Arbeitszeit wäre für Gailing keine Alternative. „Ich mache keine halben Sachen, und als Projektleiter kann man nach einem halben Tag nicht einfach gehen, wenn es Probleme gibt.“ Deshalb zieht er lieber den Schlussstrich und freut sich auf mehr Zeit für Haus und Hof, die zwei Enkelkinder und Skatturniere.