Die Rettung der Sietas-Werft gelang zwar in letzter Minute. Doch viele langjährige Mitarbeiter sehen sich ohne Perspektive in der Transfergesellschaft

Hamburg. Mehr als 18 Jahre lang fuhr Margit Quast, 50, auf der Neuenfelder Sietas-Werft Schwerlastkräne. Obendrein engagierte sie sich als Betriebsrätin. Seit August vergangenen Jahres findet sie Beschäftigung bei der Fortbildung im Harburger Elbcampus der Handwerkskammer. Dort sind bislang rund 255 ehemalige Mitarbeiter der ältesten deutschen Werft gelandet, die im Lauf des vergangenen Jahres in eine Transfergesellschaft gewechselt waren. Auch der Schlossermeister Volker Schürmann, 50, der 24 Jahre lang bei Sietas war, zuletzt als freigestellter Betriebsrat, fuhr monatelang zur Fortbildung nach Harburg, ebenso der Schweißer Helmut Siebert, 51, der auf 34 Jahre bei Sietas zurückblickt. Ein Schiffbauer sagt: „Ich bekam die Kündigung am Tag meines 40-jährigen Betriebsjubiläums. Das war pietätlos.“

In der Kantine des Elbcampus haben sich 25 ehemalige Sietas-Werker versammelt, um dem Abendblatt über ihre Erfahrungen während des langen Existenzkampfes der ältesten deutschen Werft zu berichten. An den Tischen kommen mehrere Hundert Betriebsjahre und ein gutes Dutzend gewerbliche Berufe zusammen. Vermutlich wird keiner von ihnen mehr die Werft betreten. Die Sietas-Veteranen sind wütend, aufgebracht, enttäuscht.

Anfang Februar verkaufte der Hamburger Insolvenzverwalter Berthold Brinkmann die Werft in letzter Minute an das russische Schiffbauunternehmen Pella Shipyard aus St. Petersburg. Eine Woche später lieferte Sietas ihr letztes Schiff ab. Nur noch rund 120 Mitarbeiter waren zu diesem Zeitpunkt auf der Werft. Die will Pella-Miteigner Garegin Tsaturow übernehmen, neue Aufträge nach Neuenfelde bringen und die Belegschaft bis Ende 2016 wieder auf 400 Arbeitnehmer aufstocken. Das wäre der Stand, den Sietas zu Beginn des Insolvenzverfahrens im Februar 2012 hatte. Doch diejenigen früheren Mitarbeiter, deren Zeit in der Transfergesellschaft in diesen Wochen zu Ende geht oder die sich bereits arbeitslos gemeldet haben, dürfte das nicht trösten. 55 von ihnen beziehen mittlerweile Arbeitslosengeld, einige Dutzend wollen sich bei Sietas auf Wiedereinstellung einklagen, zumindest aber nachträgliche Abfindungen fordern. „Diejenigen, die jetzt noch bei Sietas angestellt sind, haben beste Chancen, dabei zu bleiben“, sagt Schürmann. „Wir hingegen sind raus. Etliche von uns haben sich bereits einen Anwalt genommen.“

Jahrelang kämpfte Sietas gegen den Abstieg. 2009 musste der Mitinhaber Hinrich Sietas die Führung abgeben. Erstmals wurde die 1635 gegründete Werft dann von einem familienfremden Management geleitet. Die Insolvenz des wirtschaftlich ausgezehrten Unternehmens Ende 2011 verhinderte das jedoch nicht. Insolvenzverwalter Brinkmann verkaufte die zu Sietas gehörende Reparaturwerft Norderwerft im Hamburger Hafen und die Kranfabrik Neuenfelder Maschinenfabrik (NMF) zügig an neue Eigner. Für die Stammwerft Sietas hingegen fand sich kein Investor, aber auch kein neuer Auftrag mehr. Bereits im Sommer 2013 sollte das Offshore-Windparkerrichterschiff „Aeolus“ ursprünglich an das niederländische Wasserbauunternehmen Van Oord abgeliefert werden. Verzögerungen durch mangelhafte Zulieferungen führten dazu, dass das Schiff die Werft erst im Februar verließ – und dass Sietas mithilfe dieses Vorzeigeproduktes am Ende überhaupt gerettet werden konnte. Auch Wirtschaftssenator Frank Horch (parteilos) hatte sich mit der Organisation von Landes- und Bundesbürgschaften für die Erhaltung des Traditionsunternehmens eingesetzt.

Die ehemaligen Mitarbeiter im Elbcampus beeindruckt das nicht. „Schlagzeilen wie ,Das Wunder von Neuenfelde‘ sind ein schlechter Scherz. Wir sind alle betrogen worden“, schimpft ein Schiffbauer. „Hätten wir gewusst, dass es weitergeht, hätten die meisten von uns die Kündigung und den Übergang in die Transfergesellschaft nicht akzeptiert.“ Leitende Mitarbeiter und der verbliebene Teil des Betriebsrates auf der Werft hätten sich die letzten Arbeitsplätze gegenseitig zugeschanzt. Der Betriebsrat habe die Mehrzahl der Mitarbeiter mit einer Betriebsvereinbarung zum Übergang in die Transfergesellschaft gedrängt. Vor allem die älteren Arbeitnehmer und die „Querulanten“ in der Belegschaft sei der Insolvenzverwalter auf diese Weise bequem losgeworden, so mutmaßen sie.

Eckard Scholz kennt solche Stimmungslagen gut. Etliche Insolvenzen und Übergänge in Transfergesellschaften hat der 1. Bevollmächtigte der IG Metall Region Hamburg schon begleitet. „Es ist immer frustrierend für diejenigen, die nicht gleich eine oder auf absehbare Zeit keine neue Anstellung finden“, sagt er. „Trotzdem ist eine Transfergesellschaft ein gutes Instrument, um den Betroffenen einer Insolvenz den Übergang zurück zum regulären Arbeitsmarkt zu erleichtern. Die Vermittlungsquote der Sietas-Transfergesellschaft liegt bei 60 Prozent, das ist ein anständiger Wert.“ Viele ehemalige Sietas-Mitarbeiter hätten neue Arbeit in Festanstellung oder als Selbstständige gefunden, andere seien regulär in Vorruhestand gegangen. „Eine Vermittlungsquote von 100 Prozent kann es nie geben. Gerade bei den älteren Arbeitnehmern ist der Übergang oft besonders schwierig.“ Den Eindruck, der Insolvenzverwalter habe die Belegschaft bewusst ausgedünnt, weist Scholz als abwegig zurück: „Die Insolvenzverwaltung hatte überhaupt keine andere Wahl, als die Belegschaft schrittweise zu reduzieren. Denn im vergangenen Jahr gab es zeitweise kaum noch eine Perspektive für eine Fortführung von Sietas.“ Brinkmann hat mit seinem Team lange und intensiv um Sietas gerungen: „Jedem Mitarbeiter stand es frei, zum einen den ursprünglichen Transfervertrag als auch etwaige Veränderungen zu unterschreiben“, sagt der Insolvenzverwalter. „Das Spannungsverhältnis von Transfergesellschaft zur Fortführung in der Insolvenz ist immer schwierig. Wir haben die Mitarbeiter bis zum Verkauf immer in Abstimmung mit Gewerkschaft und dem Betriebsrat über die Verschiebungen im Zeitplan informiert und gegebenenfalls Transferverträge entsprechend angepasst.“

Manche Experten kritisieren Transfergesellschaften vor allem als lukrative Einkommensquelle für diejenigen Dienstleister, die Arbeitnehmer in Abstimmung mit dem Insolvenzverwalter und der jeweils beteiligten Arbeitsagentur für den Wiedereinstieg in ein Arbeitsverhältnis fortbilden. IG-Metall-Funktionär Scholz hingegen verteidigt das Instrument des Transfers: „Wir können diese Monate nutzen, um Kollegen intensiv weiterzuqualifizieren.“

Auch in Hamburg haben sich Transfergesellschaften am Arbeitsmarkt fest etabliert. Die Arbeitsagentur der Hansestadt betreut derzeit 74 verschiedene Transferprojekte mit insgesamt 7300 Arbeitnehmern. Nicht alle von ihnen leben in Hamburg. Entscheidend ist, wo ein insolventes Unternehmen seine Zentrale hat. Deshalb fiel unter anderem auch die Baumarktkette Praktiker mit ihren Filialen an vielen deutschen Standorten in die Zuständigkeit der Arbeitsagentur Hamburg. Die Vermittlungsquote zurück in den Arbeitsmarkt liege im Durchschnitt bei 50 Prozent, sie schwanke zwischen 30 und 80 Prozent, sagt Sönke Fock, Chef der Arbeitsagentur Hamburg. Neben Alter und Qualifikation des Arbeitnehmers spielten unter anderem auch dessen Flexibilität und Bereitschaft, sich weiterzubilden, eine Rolle. Die Arbeitsagentur finanziert die Arbeitnehmer in der Transfergesellschaft mit Transferkurzarbeitergeld in Höhe des Arbeitslosengeldes, das frühere Unternehmen steuert die Abgaben zur Sozialversicherung bei. Qualifizierungskosten trägt unter bestimmten Bedingungen zum Teil der europäische Sozialfonds ESF.

Den ehemaligen Sietas-Mitarbeitern im Elbcampus allerdings geht es nicht um die Zeit in der Transfergesellschaft oder um Arbeitsmarktdebatten. Sie trauern über das Ende ihrer Berufsjahre und -jahrzehnte auf der Werft. Ob Margit Quast wieder zurückwolle auf ihren Werftkran? „Natürlich“, sagt sie. „Am liebsten morgen.“