Die Umsätze bei Thalia sinken, Filialen werden geschlossen. Nun sollen eReader, Spielzeug und Accessoires die Wende bringen: „Wir können die Entwicklung ja auch nicht aufhalten.“

Hamburg. „Wir können die Entwicklung ja auch nicht aufhalten“, sagt eine Mitarbeiterin bei Thalia und streicht über den matten Bildschirm des eReaders. Die Lesegeräte liegen an einer E-Book-Station mitten in der Thalia-Filiale Große Bleichen zum Ausprobieren bereit. Draußen am Schaufenster werben große Plakate für die eReader, sie versprechen „Die neue Leichtigkeit des Lesens“.

So fröhlich-unbeschwert die Werbebotschaft klingt, so ernst ist der Hintergrund dieser Kampagne: Erst hat Thalia in den vergangenen Jahren Tausende Kunden an den Onlinehändler Amazon verloren, der zum führenden Buchhändler im Internet angewachsen ist. Mit der Offensive für den eReader ficht Thalia nun wiederum einen Kampf gegen Amazon aus, eine Aufholjagd, die für manche Branchenbeobachter aber schon verloren scheint.

Schließlich befeuert Amazon mit dem eigenen Reader Kindle sein Wachstum weiter: Das Amazon-Gerät lässt ausschließlich den Einkauf von Literatur bei Amazon zu. Thalia bringt mit dem eReader Tolino zwar ebenfalls ein gutes Lesegerät auf den Markt, beschränkt den Einkauf aber nicht auf den eigenen Shop.

Bei den Kunden kommt die Amazon-Abwehrwaffe Tolino bestens an: „Die Verkäufe des Readers haben bereits in den ersten 100 Tagen nach Markteinführung die hohen Absatzzahlen im vergangenen Weihnachtsgeschäft weit überholt“, heißt es bei Thalia. Allerdings schafft sich der Konzern damit ein neues Problem: Wer sich jetzt für den Tolino entscheidet, braucht fortan keinen Fuß mehr in eine Thalia-Buchhandlung zu setzen, er kann von Zuhause aus in der Auswahl von Hunderttausenden Titeln stöbern und lädt sich die Bücher einfach herunter.

Die Thalia-Beschäftigte in der Hamburger City muss den Tolino, übrigens ein Gemeinschaftsprodukt mit den teilweise ebenfalls gebeutelten Buchanbietern wie Hugendubel, Weltbild und Bertelsmann, an der Test-Station anpreisen. Tapfer lobt sie die einfache Bedienung und das blendfreie Lesen auf dem Bildschirm, auch wenn sie die neue digitale Lesewelt als Übel für die Buchbranche fürchtet. Und auch, wenn die Entwicklungen sie womöglich bald den Job kosten werden. Die Filiale Große Bleichen soll im Januar 2014 schließen.

Die Verhandlungen des Betriebsrates mit der Geschäftsleitung über die Zukunft der rund 30 in der Filiale betroffenen Beschäftigten sind jetzt beendet. Der Sozialplan steht, und das Ziel ist es, auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten, sagte Heike Lattekamp von der Gewerkschaft Ver.di dieser Zeitung. Falls es zu Entlassungen komme, wähle das Unternehmen die Betroffenen aus dem gesamten Pool der 280 Thalia-Beschäftigten in Hamburg aus, nach Sozialkriterien wie der familiären Situation und dem Alter.

Immerhin gewann Thalia mit dem Tolino Shine jetzt bei der Stiftung Warentest in der Kategorie Preis-Leistung. Mit dem Siegel des Testsiegers darf sich allerdings der Amazon Kindle Paperwhite schmücken. Rund elf Prozent der Deutschen lesen bereits digitale Bücher auf mobilen Endgeräten. Bis 2015, schätzen Marktbeobachter, dürfte ein Viertel der Online-Buchumsätze mit eBooks erwirtschaftet werden.

Dort locken oft auch günstigere Preise, sogar kostenlose E-Books. Das Problem: Amazon kann mit seiner Marktmacht Verlage unter Druck setzen, Sondereditionen zu günstigen Preisen auf den Markt zu bringen. Wenn die Rechte an Romanen ausgelaufen sind, gibt es sie auch schon mal gratis. „Es verwirrt die Verbraucher, unterschiedliche Preise für eBooks im Internet und im Buchhandel zu finden“, sagt Matthias Ulmer, der Vorsitzende des Verlegerausschusses im Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Zwar dürften die Händler wegen der Buchpreisbindung nicht gleiche Produkte zu verschiedenen Preisen anbieten.

Dennoch gerieten die Margen unter Druck. Zum Vergleich: Bei gedruckten Büchern erzielen die Händler eine Marge von 30 bis 40 Prozent. Bei eBooks liegt diese nur bei fünf bis zehn Prozent. „Der Buchhändler muss also wesentlich mehr eBooks verkaufen als gedruckte Bücher, um den gleichen Deckungsbeitrag zu erzielen“, sagt Ulmer. Außerdem liegen die Preise von eBooks deutlich unter denen von Büchern auf Papier. Längerfristig rechnet die Branche mit einem Durchschnittpreis von 3,99 Euro für eBooks. Ein Blick auf die Sonderangebote im Netz bestätigt den Trend zum Billigbuch: „Zwei Worte bis zu Dir“ von Nancy Salchow sind bei Thalia kostenlos im Angebot, „Der Widerspenstigen Zähmung“ von Karl Ettlinger ist bei der Kindle Edition von Amazon ebenfalls kostenlos. Zum Vergleich: Das Taschenbuch kostet 10,80 Euro. Auch die „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ von Jules Verne bietet Amazon als E-Book gratis an, als Taschenbuch kostet das Abenteuer 8,90 Euro. Insgesamt 43 Seiten E-Books sind im Netz bei Thalia gratis verfügbar.

Auch die Autoren haben selten ein Interesse daran, wenn ihre Werke verscherbelt werden. Heute werden etliche Sherlock-Holmes-Geschichten wie „Der Hund von Baskerville“ im Netz gratis angeboten. Um 1920 gehörte ihr Schöpfer Arthur Conan Doyle zu den bestbezahlten Schriftstellern der Welt.

Auch die Filiale Große Bleichen hat früher bessere Zeiten erlebt, sie war einst ein Vorzeigestandort von Thalia. Die Buchhandlung ging 1984 an den Start, fünf Jahre nachdem Hugendubel in München mit einem ähnlichen Konzept am Marienplatz angetreten war. Heute sind die 2000 Quadratmeter in 1a-Lage für Thalia ein Klotz am Bein, zu wenig Geld verdient das Geschäft angesichts der hohen Mietkosten. Rund ein Dutzend Geschäfte schließt Thalia bundesweit. Dieser Schrumpfungsprozess soll aber jetzt abgeschlossen sein, heißt es aus dem Douglas-Konzern, zu dem die Kette seit einigen Jahren gehört.

Der üppige Platz in den großen Filialen, die zum Teil durch lange Mietverträge an teure 1a-Lagen und Einkaufszentren gebunden sind, wird jetzt notdürftig gefüllt. Neben den Büchern gibt es immer mehr Spielzeug, Accessoires und andere buchfremde Produkte. „Thalia verkommt zum Gemischtwarenladen“, urteilt Rainer Bartle von der Handelsberatung BBE aus München über die Strategie. Es ginge Douglas nur noch darum, möglichst viel Geld mit Thalia zu verdienen, ohne dabei aber einen längerfristigen Plan für eine Positionierung zu haben, kritisiert der Handelsexperte. „Die Zeit dieser großen Thalia-Buchhandlungen ist vorbei“, ergänzt Verleger Matthias Ulmer. Der Kunde suche nicht nach Schnickschnack-Produkten, auf die sich Thalia derzeit konzentriere. Statt dieses „Wohlstandsmülls“ suche er vielmehr Anregung, Beratung, Überraschung in einem Buch-Sortiment – auch außerhalb der Bestseller-Listen.

Die Ware trifft offenbar auch nicht immer den Geschmack der Thalia-Kunden, zeigt ein Besuch in einer Hamburger Filiale: Im Juli wirkt das Teelichtkarussell in einer Verpackung mit dem Spruch „Frohe Ostern“ deplatziert, auf der Lippenpflege ist ein Skiläufer abgebildet, und die Aufschrift „Winterzauber“ deutet darauf hin, dass die Ware schon länger auf Käufer wartet. Die Playmobil-Kartons belegen einen großen Verkaufstisch und sind allesamt um 50 Prozent reduziert.

Ulmer sieht für den Buchhandel nur eine Überlebensstrategie: Geschäftsideen im Dreieck zwischen Literaturhaus, Stadtbücherei und Buchhandlung hätten durchaus Chancen. In Berlin existiere eine Szene junger Unternehmensgründer, die sich auf dieses Terrain wagten und die sozialen Medien nutzten, um mit Lesungen und Dichterbesuchen im Gespräch zu bleiben.

Das Bizarre an der Situation: Die Leute lesen durchaus noch, es ist nicht der Wandel der Gesellschaft, der Thalia das Leben schwer macht. Schuld sind nicht Computerfreaks und Fernsehverrückte, die sich vom Buch abwenden, sondern es ändern sich schlicht und einfach die Vertriebswege. Thalia muss also auf einem Feld kämpfen, auf dem die Gruppe als Händler schon seit Jahrzehnten etabliert ist, immerhin geht die Kette auf eine kleine, feine Buchhandlung neben dem Thalia-Theater aus dem Jahre 1919 zurück. „Thalia hat leider Amazon das Feld überlassen, und auch der Tolino kommt zu spät“, fasst Handelsexperte Bartle die Misere zusammen.

Wie scharf und emotional der Wettbewerb gerade zwischen den Rivalen Thalia und Amazon geführt wird, zeigte jetzt die neueste Kampagne der Buchkette. Thalia textet, als Reaktion auf eine Plakat-Aktion der ungeliebten Amerikaner: „Amazon war an acht Bahnhöfen 30 Tage zu sehen. Großartige Kampagne, liebe Kollegen.“ Und setzt dagegen: „Thalia ist mit 300 Buchhandlungen und 5000 Mitarbeitern immer für Sie da.“ Es ist die Frage, wie lange noch: „Angesichts der Situation im Buchhandel schließe ich nicht aus, dass es in Zukunft zu einem weiteren Stellenabbau bei Thalia kommen wird“, sagte Heike Lattekamp von Ver.di.