Hamburgs Bischöfin Kirsten Fehrs warnt vor den Folgen unserer Wachstumslogik für den Einzelnen, die Gemeinschaft und die Umwelt.

Hamburg. Unlängst las ich, dass die Verbraucher trotz der Finanz- und Schuldenkrise in Kaufstimmung seien. 285 Euro für Weihnachtsgeschenke wolle jeder über 14-Jährige in Deutschland in diesem Jahr durchschnittlich ausgeben - neun Prozent mehr als im Vorjahr. Ein deutlicher Zuwachs, ich gönne dem Einzelhandel das gute Weihnachtsgeschäft. Viele Branchen sind ja darauf angewiesen. Und im vergangenen Jahr ist es wegen des warmen Winters für manche schlecht gelaufen.

Was mir bei meiner eigenen Wahrnehmung dieser und vieler anderer Wirtschaftsnachrichten auffällt: Wir sind die Steigerung gewohnt, wir erhoffen und erwarten ein Mehr. Und wehe, wenn Rückgänge vermeldet werden, und die Konjunktur schwächelt. Dann läuten die Alarmglocken. Unsere Wirtschaft ist auf Wachstum programmiert. Es geht wohl nicht mehr ohne Steigerung. Als die Finanzkrise von 2008 den Wachstumsmotor zum Stottern brachte, wurde ein "Wachstumsbeschleunigungsgesetz" beschlossen. Bestimmte Auswüchse der Wachstumslogik im Finanzsektor mussten mit neuen Wachstumsimpulsen bekämpft werden. Wurde da der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben? Angeblich waren die beschlossenen Maßnahmen alternativlos.

In der Folge wuchsen die Schulden der Staaten in schwindelnde Höhen. Und heute? Ich höre viele Wirtschaftsnachrichten inzwischen mit einem unguten Gefühl. Ich merke, dass die Undurchschaubarkeit mir unheimlich ist. Wie lange wird die Politik der Rettungspakete und -schirme auf der einen Seite und des Sparens und des Sozialabbaus in Europa noch gut gehen? Die mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation und ihrer Atomrüstung abgetretene Apokalypse-Drohung hat sich fast lautlos durch die Hintertür wieder auf die Bühne geschlichen. Ohne Killerviren oder Meteoriteneinschläge. Es ist unsere Art des Wirtschaftens, die zum Problem geworden ist. Sie produziert zu viel Müll, Schulden, Ungerechtigkeit und Tod.

Mich erinnern diese Vorgänge manchmal an die eindrückliche Parabel von Leo Tolstoi, die auch in der Bibel stehen könnte. Sie erzählt von dem Bauern, dem der Teufel so viel Land verspricht, wie er an einem Tag umlaufen kann. Der Bauer rennt sich die Lunge aus dem Leib, schließt den Kreis und bricht tot zusammen. "Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert und Schaden nimmt." Dieser Satz aus dem Lukas-Evangelium kann als Resümee von Tolstois Parabel gelesen werden. Dabei kann der Druck der Steigerungslogik, des immer Schneller und immer Mehr nicht nur die Gesundheit Einzelner ruinieren (und zum Beispiel zum Burn-out der Dauerarbeiter führen), sie zerstört auch die Schöpfung.

Wir wissen das schon lange. Das Epochenbuch "Die Grenzen des Wachstums" ist 1972 erschienen. Wir haben als Schüler darüber diskutiert. Dass die Erde und ihre Ressourcen endlich sind, leuchtete uns sofort ein. Im Zuge der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrisen ist nun erneut deutlich geworden, dass sich die Wachstumsspirale auch unabhängig von den ökologischen Problemen nicht beliebig weiterdrehen lässt. Die Produktivität lässt sich steigern. Aber wer soll das am Ende alles kaufen? Die Aufstocker, Geringverdiener und Rentner der Zukunft werden es nicht sein. Denn sie haben kein Geld. Und die, die das Geld haben, haben schon alles. Die Wachstumswirtschaft stößt schon allein aus innerökonomischen Gründen an Grenzen. Dazu kommt, dass die soziale Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten rasant zugenommen hat. Das ist nicht nur ungerecht, sondern zerreißt Gesellschaften. Auch in Hamburg ist die soziale Spaltung ein Thema, das noch zu wenig wahrgenommen wird.

Ich habe den Eindruck, dass wir an einem Punkt angekommen sind, an dem ein grundsätzliches Umdenken notwendig ist. Wir brauchen eine ökosoziale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Das Wachstumsdogma muss hinterfragt werden. Im Juni dieses Jahres hat dazu in Berlin ein großer Kongress von DGB, Naturschutzverbänden und Einrichtungen der EKD stattgefunden. Er sollte aus dem Spartendenken herausführen, das Ineinander der ökologischen, ökonomischen und sozialen Dimension des notwendigen Wandels stärker in den Blick nehmen und Bündnisse fördern. Klar wurde erneut, dass es uns zumeist nicht an Wissen mangelt. Das Handeln ist das Problem. Vor diesem Hintergrund: Was können wir tun, dass gute Ideen wirklich greifen? Was müssen wir lassen? Was kann der Protestantismus zur ethischen Orientierung und Ermutigung beitragen? Wie zeigen sich Wirtschaftsfragen im Licht von Weihnachten?

Am Heiligen Abend wird die Weihnachtsgeschichte wieder in den vielen Kirchen unserer Stadt aufgeführt, gelesen, interpretiert und besungen werden. Ihre zentrale Botschaft: Gott wird Mensch. Er kommt zu uns. Unterwegs und in unehelichen Verhältnissen geboren. Gott, der über allen ist, wird der Niedrigste, der Schwache: ein Kind zuerst, ein Gekreuzigter später. Jesu Botschaft ist die Liebe Gottes. Sie bildet das Zentrum und die Motivation christlicher Ethik. Am Anfang steht darum kein Appell, sondern ein Zuspruch. Keine Aufgabe, sondern eine Gabe. Und indem Weihnachten und die Bibel die Liebe so in den Mittelpunkt stellen, sagen sie auch: Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Er ist liebesbedürftig. Er gedeiht unter den Bedingungen von Liebe, Solidarität und Kooperation.

Nicht Reichtum ist verwerflich, sondern die Habgier

Verschärfte Konkurrenz kann hingegen zu Mord und Totschlag führen. Siehe Kain und Abel. Die Liebesethik Jesu weiß auch um diese dunkle Seite des Menschen. Das gibt ihr jedoch keinen Anlass für moralische Ermäßigungen. Im Gegenteil. In der Bergpredigt wird das Liebesgebot sogar noch radikalisiert. "Ich aber sage euch:", heißt es dort, "Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen." Direkte Handlungsanweisungen für die Probleme der heutigen Wirtschaft lassen sich aus der Bibel nun sicher nicht ableiten. Aber Grundlinien werden deutlich. Zum Beispiel im Gleichnis vom reichen Kornbauern. Da sammelt einer seinen gesamten Gewinn in Scheunen, um vorzusorgen. Du Narr, sagt Gott, und nimmt ihm das geliehene Leben. Doch nicht, weil dieser vorsorgen wollte - gerade in heutiger Zeit, in der das Vertrauen in die staatlichen Sicherungssysteme geschwunden ist, wäre dies ja komplett lebensfern. Der Kornbauer verliert sein Leben, weil er nur "ich" und "mein" sagen kann. Seine totale Selbstbezogenheit ist es, die den Kornbauern in den Augen Gottes zu einem habgierigen Menschen macht. Da scheinen um ihn keine Nachbarn zu leben, keine Mitarbeiter, keine Frau, keine Kinder, kein Mensch, dem er verbunden ist. Es gibt nur ihn und seine Scheunen. Und so kann er nichts abgeben, er kann nicht teilen, weil er gar nicht sieht, mit wem. Sogar seine Worte teilt er in Selbstgesprächen nur sich selbst mit. Armer reicher Kornbauer.

Die Moral der Geschicht macht sich in unserem sozial gespaltenen Land unerhört aktuell aus: Nicht Reichtum ist verwerflich, sondern die Habgier. Wer mehr hat, als er braucht und eifrig darauf bedacht ist, so wenig zu geben wie nur irgend möglich, der leidet unter "Pleonexia" - so das griechische Bibelwort. Die Unfähigkeit zu teilen. Oder auch die Sucht, haben zu wollen. Und die ist letztlich tödlich, sozial tödlich.

Summa: Wer Gott dient, sollte das Gemeinwohl im Blick haben. Zugleich weiß Kirche auch, dass unternehmerische Initiativen Anreize brauchen. Es geht um die Balance. In einem Wort der EKD zur Finanz- und Wirtschaftskrise von 2009 heißt es dazu: "Der individuelle Eigennutz, der ein tragendes Strukturelement der Marktwirtschaft ist, kann isoliert zum zerstörerischen Egoismus verkommen. Über die politische und wirtschaftliche Rahmensetzung hinaus ist es eine kulturelle Aufgabe, dem Eigennutz eine gemeinwohlverträgliche Gestalt zu geben. Die Balance zwischen persönlichem Wohlergehen und sozialer und ökologischer Verantwortung geht jeden an." Und das bedeutet im Klartext: Wir werden generell unsere Lebensgewohnheiten verändern müssen. Wie die Energiewende werden wir auch eine soziale Wende nicht zum Nulltarif bekommen. Und das ist nichts weniger als ein Paradigmenwechsel, der jeder und jedem Einzelnen abverlangt, Ressourcen schonend und damit letztlich bescheidener zu konsumieren.

Bei wirtschaftlicher Neuorientierung geht es auch um Rückbesinnung

In mancher Hinsicht geht es bei der notwendigen wirtschaftlichen Neuorientierung auch um eine schlichte Rückbesinnung. Auf das Konzept der sozialen Marktwirtschaft, das nicht zuletzt unter dem Einfluss der evangelischen Sozialethik und der katholischen Soziallehre entwickelt wurde. Dabei war die Vorstellung leitend, dass die Wirtschaft um des Menschen willen da ist und nicht umgekehrt. Als Zweck der Wirtschaft wurde nicht der Profit gesehen, sondern die Herstellung sinnvoller Güter und Dienstleistungen. Ein sozialer Ausgleich durch das Steuersystem wurde für wichtig gehalten und klare Rahmenordnungen für die Märkte. Diese Grundorientierung ist sukzessive verloren gegangen - bis dahin, dass in den 90er-Jahren der Shareholder-Value das oberste Gebot war. Im Zuge dieser Renditefixierung kam es dann auch zu den Exzessen bei den Managergehältern. Der Fortgang ist bekannt: New-Economy-Blase, Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Euro-Schuldenkrise. Dazu sagte der geläuterte, frühere Chef von General Electric, Jack Welch, jüngst: "Genau genommen ist Shareholder-Value die blödeste Idee der Welt." Heute ist Wirtschaftsethik in aller Munde, viele fordern die Rückbesinnung auf die Idee der sozialen Marktwirtschaft - ökologisch "upgedated". Stichwort Nachhaltigkeit. Zu diesem Diskurs will die Kirche einen Beitrag leisten. Orientiert am Begriff der sozialen Gerechtigkeit.