Die Brauer fordern in Hamburg fünf Prozent mehr Lohn. Doch insgesamt setzen die Gewerkschaften lieber auf sichere Jobs statt auf mehr Geld.

Hamburg. Lutz Tillack konnte zufrieden sein: Bei der Holsten-Brauerei floss gestern gegen Mittag praktisch kein Bier mehr in die Flaschen. Rund 120 Beschäftigte nahmen nach Angaben des Hamburg-Geschäftsführers der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) an einem Warnstreik und einer Kundgebung vor dem Haupttor der Carlsberg-Tochter teil. Es geht um Geld: Die NGG fordert eine Tarifanhebung um fünf Prozent, die Arbeitgeber aber bieten nur einheitlich 40 Euro für alle, was bei dem durchschnittlichen Entgelt eines Facharbeiters von 2813 Euro einem Plus von 1,4 Prozent entspricht. "Wir sind entschlossen, das nicht hinzunehmen, weil es das sinnvolle Tarifraster zerstören würde", sagte Tillack dem Abendblatt. "Wir wollen, dass es für alle Mitarbeiter eine vernünftige, dauerhafte Erhöhung gibt."

Doch einen Abschluss nach dem gewohnten Muster früherer Jahre konnten die Gewerkschaften zuletzt auch in anderen großen Branchen nicht erkämpfen. So einigte man sich in der Chemieindustrie auf eine Einmalzahlung von 550 Euro, in der Metallbranche gibt es für 2010 pauschal nur 320 Euro, und erst zum 1. April 2011 sollen die Entgelte um 2,7 Prozent steigen. Beide Abschlüsse enthielten dafür aber umfangreiche Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung. Und selbst beim Streik der Lufthansa-Piloten im Februar ging es nicht um das Geld - Streitpunkt war die von den Flugzeugführern befürchtete Verlagerung von Arbeit auf Tochtergesellschaften mit niedrigeren Gehältern.

Wenn prozentuale Einkommenssteigerungen bei Tarifverhandlungen in diesem Jahr meist nicht im Mittelpunkt stehen, ist dies zwar eine Folge der Wirtschaftskrise, sagt Reinhard Bispinck, Leiter des Tarifarchivs beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. "Aber ein grundsätzlich neues Verhalten ist das nicht. Auch im Jahr 1994 haben wir nach der vorangegangenen Rezession Abschlüsse gesehen, die sich stark an der Beschäftigungssicherung orientierten. An diese Tradition knüpfen wir an."

Allerdings nutze man dabei auch innovative Instrumente, so Bispinck - zum Beispiel die "regionalen Netzwerke" zur Vermittlung von Beschäftigten aus nicht ausgelasteten Betrieben in andere Firmen, in denen es besser läuft. Solche Vereinbarungen führen nach Ansicht von Reinhard Bahnmüller, Geschäftsführer des Forschungsinstituts für Arbeit, Technik und Kultur an der Universität Tübingen, zu einer "neuen Wertschätzung der Tarifpolitik: Man hat erkannt, dass sie etwas leisten kann, wovon beide Seiten etwas haben."

Zumindest bei der IG Metall habe die neue Flexibilität aber auch mit den handelnden Personen an der Spitze zu tun, meint Hagen Lesch, Tarifexperte beim als arbeitgebernah geltenden Institut der deutschen Wirtschaft (IW): "Berthold Huber und Detlef Wetzel denken strategisch anders als ihre Vorgänger." Ihnen komme es viel stärker darauf an, Lösungen zu finden, die für die Betriebsräte vor Ort hilfreich sind.

Allerdings beobachtet Lesch auch eine grundlegend neue Entwicklung in der Tarifpolitik der Gewerkschaften: "Sie versuchen, nun auch in unternehmerische Entscheidungen einzugreifen." Das gilt unter anderem für den Streit zwischen den Piloten und der Lufthansa - nach Darstellung des Kranich-Konzerns will die Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit künftig mitbestimmen, welches Flugzeug auf welcher Strecke eingesetzt wird. Und für die Tarifverhandlungen bei den privaten Banken hat die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di das Ziel ausgegeben, den Verkaufszwang abzuschaffen, der die Kundenberater in einen Interessenkonflikt zwischen Arbeitgeber und Kunden geraten lasse.

Vor dem Hintergrund solcher Tendenzen und der noch nicht einmal vollständig überwundenen Wirtschaftskrise verwundert es nicht, wenn die Gehaltsabschlüsse in diesem Jahr vergleichsweise mager ausfallen. "Wir werden in diesem Jahr sicher eine deutlich niedrigere Tariflohnsteigerung sehen als die 2,6 Prozent aus dem Vorjahr", erwartet Bispinck. Hierbei gilt es allerdings zu beachten, dass die tatsächlich gezahlten Löhne in Deutschland 2009 stagnierten (siehe Grafik). Der Grund: Die effektiv geleistete Arbeitszeit ging krisenbedingt durch Kurzarbeit zurück. Weil die Kurzarbeit in vielen Betrieben nun aber wieder zurückgefahren wird und die Inflationsrate den Prognosen vieler Volkswirte zufolge ebenfalls sehr niedrig bleiben dürfte, könnten die Beschäftigten in diesem Jahr nach Einschätzung von Bispinck unter dem Strich sogar mehr Geld in der Tasche haben als im Vorjahr.

Ohnehin glaubt keiner der Experten, dass die aktuelle Zurückhaltung der Gewerkschaften und ihre Sorge um die Beschäftigungssicherung in den Tarifverhandlungen als dauerhafte Abkehr von früheren Ritualen zu verstehen ist. "Sobald sich die Konjunktur etwas stabilisiert hat, werden die Verteilungsfragen wieder auf den Tisch kommen", sagt Bahnmüller. Zumal es nach Auffassung von Bispinck gute Gründe gibt, künftig mehr auf eine Stärkung der Kaufkraft der Verbraucher zu achten: "Wir stehen vor dem Grundproblem, wieder eine besser ausbalancierte Wirtschaftspolitik zu schaffen."

Deutschland sei heute sehr stark abhängig von seinen Exporterfolgen - doch die habe man sich erkauft durch eine ausgeprägte Lohnzurückhaltung der Beschäftigten in den vergangenen zehn Jahren.

Schließlich hätten die Deutschen damit auch andere europäische Staaten unter Druck gesetzt, heißt es beim WSI: "Wollten Länder wie Griechenland, Irland und Spanien heute in ihrer preislichen Wettbewerbfähigkeit mit Deutschland gleichziehen, so müssten sie theoretisch ihre Löhne auf einen Schlag um mehr als 20 Prozent kürzen."