Es gibt Kaviar - aber nicht für die Menschen vor im mecklenburgischen Demmin. Ihnen bleibt die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Demmin. Da zappeln sie im Becken, 250 Millionen Jahre Evolution. Es gibt Orte, die fischiger riechen als dieser, aber nur wenige, an denen mehr wertvolle Fische herumschwimmen als hier. Die milde Luft in der Zuchthalle von Caviar Creator am Rande von Demmin riecht würzig nach Biofutter, das Wasser in den meisten der 156 Becken ist kristallklar. Nur die Mastbecken sind eingetrübt. Störe schwimmen in den Kunststoffwannen, sorgfältig getrennt nach Alter und Größe, Knorpelfische aus der Urzeit der Erdfauna. Ihr Rogen ist eine der teuersten Delikatessen der Welt: Kaviar.

Rund 200 Tonnen Stör hält das Unternehmen derzeit in der Halle, sagt Betriebsleiter Detlef Dücker. Der größte Teil des Bestandes ist der sibirische, auch Baeri-Stör genannt. "Die ausgewachsenen Weibchen wiegen bis zu 50 Kilogramm", sagt Dücker an einem Becken für die fast schlachtreifen Exemplare. "Etwa zehn Prozent des Körpergewichts sind Rogen." Nach vier bis fünf Jahren sind die Störe bei Caviar Creator geschlechtsreif, in freier Wildbahn dauert es länger als 15 Jahre: "Die professionelle Herausforderung ist das richtige Management des Wasserkreislaufs", sagt der studierte Maschinenbauingenieur und Hobbyangler. Es lohnt sich, das zu beherrschen. Der Stör ist in seiner natürlichen Umgebung in Russland und Zentralasien weitgehend ausgerottet. Mehr und mehr versorgen Zuchtbetriebe den Markt.

Auf dem Regal in Dückers Büro stehen einige Musterdosen mit dem Logo von Caviar Creator. In die größte von ihnen passt ein Kilo der kostbaren Fischeier, der Konsument zahle dafür mindestens 2000 Euro, sagt Dücker. "Wir Normalmenschen sind ja in Zeiten der Krise alle etwas knapp bei Kasse", sagt er. "Aber die Investmentbanken sollen ihren Mitarbeitern ja schon wieder ordentliche Boni zahlen, wie man liest." Das kommt dem amerikanischen Unternehmen mit seiner Außenstelle in der deutschen Provinz entgegen. Vier bis fünf Tonnen Störrogen will Caviar Creator in diesem Jahr erzüchten und eindosen. Ausgelegt sei die Anlage schon jetzt auf zehn bis elf Tonnen im Jahr, nach einer Erweiterung könnten es bis zu 33 Tonnen werden, beschreibt Dücker die Perspektiven der Firma.

Kaviar für die Welt

Caviar Creator präsentiert sich als einer der weltweit führenden Hersteller von Kaviar aus der Züchtung von Stören. Mancher Investmentbanker in New York, London oder Frankfurt wird seine Millionenprämien wohl mit dem edlen Stoff aus Demmin feiern. So trägt auch die wirtschaftlich schwächste Region in Deutschland ihren Anteil zur Globalisierung bei. Vor Ort hingegen dürfte man Kaviar auf dem Teller eher selten finden.

Der Landkreis Demmin in Vorpommern, "rechts oben" auf der Deutschlandkarte: Im Norden liegen Greifswald und Rügen, im Osten ist die polnische Grenze nicht weit, im Süden Neubrandenburg. Die Wälder und Auen zwischen Peene-Tal und Kummerower See sind sattgrün, doch die Zukunftsaussichten wirken bestenfalls dunkelgrau, jedenfalls dann, wenn man die Entwicklung der Region seit dem Ende der DDR zugrunde legt. 17,3 Prozent Arbeitslosenquote weist die Statistik für den Juli aus, im Norden des Kreises sind es mehr als 20 Prozent. Im gesamtdeutschen Durchschnitt 8,2 Prozent.

Ewiges Schlusslicht

Demmin hält den Rekord schon seit der deutschen Einheit. Keines der wirtschaftlichen Boomjahre seither hat etwas daran geändert, dass der Landkreis Monat für Monat die höchste Arbeitslosigkeit in Deutschland melden muss. Die neue Küstenautobahn 20 hat den Trend so wenig gewendet wie der Beitritt des nahen Polen in die Europäische Union.

"Freitags rauschen die Polen auf der A 20 von Hamburg nach Stettin, Sonntagabend wieder zurück. Hier bleibt keiner hängen", sagt Siegfried Konieczny in seinem Büro in Demmin. Der Landrat von der Linkspartei spricht ohne Bitterkeit. Zahlen sind geduldig - und hier vor Ort besonders. "Wir haben vom konjunkturellen Aufschwung der vergangenen Jahre nicht profitiert, spüren nun aber - aus Mangel an produzierenden Betrieben - auch die Rezession entsprechend weniger." Die Straßen, Schienen und Wasserwege in der Region, alles ist neu oder sonst wie bestens in Schuss. Aber die Weltwirtschaft lässt sich hier nicht blicken.

Da hilft nicht mal der Kanzlerbonus. Angela Merkel (CDU) hat ihren Wahlkreis in Stralsund nicht weit entfernt im Norden. In Demmin feiert sie gelegentlich politischen Aschermittwoch. Bislang blieb das jedoch ohne Folgeaufträge für die regionale Wirtschaft. In der LPG Daberkow, einer der größten Agrarfabriken der DDR, arbeiteten bis zum Ende des ostdeutschen Staates rund 700 Menschen, etliche Betriebe in der Region lebten damals von Zulieferungen. Heute gibt die Landwirtschaft im nördlichen Landkreis Demmin noch etwa 40 bis 50 Stammbeschäftigten Arbeit. "Es gab keinen gesteuerten Strukturwandel", sagt Konieczny, "im nördlichen Kreis ist kaum etwas Neues entstanden."

Einer der wenigen Erfolge war im Jahr 2005 die Ansiedlung von Caviar Creator in einer ehemaligen Aalzucht. Entlastung für den Arbeitsmarkt brachte allerdings auch der Kaviarproduzent nicht. In dem stark automatisierten Zuchtbetrieb arbeiten bislang gerade mal 24 Menschen.

Eine gespaltene Region

Im Süden des Landkreises sieht es besser aus. Lebensmittelbetriebe haben sich dort nach der Einheit angesiedelt, unter anderem der Kartoffelproduktehersteller Pfanni. Es gibt eine Brauerei, kleine Anlagenbauer, einen Produzenten von Biosprit, Regionallager von Einzelhandelsketten. "Im Süden liegt unser Speckgürtel", sagt Konieczny.

Die Spaltung seines Landkreises, die bislang eine statistische ist, könnte bald auch politisch und rechtlich vollzogen werden. Die Zahl der Kreise und kreisfreien Städte in Mecklenburg-Vorpommern soll mit einer Gebietsreform halbiert werden. Konieczny tritt an die Karte neben seinem Schreibtisch und erläutert, was aus seiner Sicht nicht passieren darf: Wird der nördliche Teil des Kreises Demmin wie geplant mit den Kreisen Ostvorpommern und Uecker-Randow sowie mit der Stadt Greifswald vereint, entstünde der neue Kreis "Südvorpommern", eine Art Superarmenhaus im Osten.

Im jüngsten "Regional Ranking" der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft belegt Uecker-Randow beim Vergleich der wirtschaftlichen Stärke von 409 Landkreisen und kreisfreien Städten Platz 409, Demmin 408 und Ostvorpommern Rang 400. "Wir kämpfen engagiert gegen die Spaltung unseres Landkreises", sagt Konieczny. "Sie wäre der regionale Todesstoß."

Sein Waffenarsenal für diesen Kampf ist klein, die eigenen Truppen schwach. Besonders hoch, rund ein Drittel, ist in Demmin der Anteil der Langzeitarbeitslosen. Man hat sich eingerichtet. "Hier lässt sich mit wenig Geld überleben, das Bier ist billig", weiß der Landrat. Und selbst wenn, wie durch ein Wunder, plötzlich Porsche oder irgendeine andere Hochglanzmarke vor der Tür stünde und eine neue Fabrik eröffnen wollte, würde das die Lage nicht erleichtern. "Wir haben in den 90er-Jahren enorm viel berufliches Wissen verloren", sagt Konieczny. "In der Industrie könnten wir Investoren mit der Qualifikation vieler Menschen hier nur schwer bedienen."

Die Rentneroffensive

So hofft man in Demmin auf die alternde Gesellschaft, darauf, dass großstadtmüde Rentner mit gutem Geld die Vorzüge des ruhigen Landlebens an den Flüssen Peene, Trebel und Tollense entdecken. "Das Peene-Tal ist der Amazonas Norddeutschlands", schwärmt Konieczny vor der Landkarte, "eine unverbaute Flusslandschaft mit dem Niveau eines Nationalparks."

Der Generalplan für die Rentneroffensive steht noch nicht, von "Kooperationen mit Sozialkonzernen" spricht der Landrat vage. Die grobe Richtung wurde aus der Landeshauptstadt Schwerin schon mal vorgegeben: "Gesundheitsland Mecklenburg-Vorpommern" heißt der Slogan, mit dem professionelle und private Investoren nach "MeckPomm" gelockt werden sollen. Die Einstiegspreise für ein Leben im Nordosten jedenfalls sinken, denn die Zahl der Einheimischen schrumpft permanent. "Wir haben hier alle Strukturen, um ältere Menschen aus ganz Deutschland dafür zu begeistern, ihren Lebensabend bei uns zu verbringen", sagt Konieczny. "Hier bekommen sie Häuser, Grundstücke und vieles mehr für einen Apfel und ein Ei."

Liebevoll sind die Ufer entlang der Peene mit Hütten, Bootshäusern und Stegen bebaut. Weit reicht der Blick von den Hügeln der Mecklenburgischen Schweiz bei Salem über die Ufer des Kummerower Sees. Still liegen die Alleen mit ihren dichten Baumreihen jenseits der großen Straßen.

Neue Jobs dank Müll

Südlich von Rosenow, fast schon in Neubrandenburg, weht ein bitteres Aroma durch die Luft. Es stammt von der OVVD, der regionalen Mülldeponie und Reststoffverwertung. Geschäftsführer Hans-Jürgen Geier zeigt die Anlage gern, es ist das größte Wirtschaftsprojekt, das in den vergangenen Jahren im Landkreis Demmin realisiert wurde. Ein Aushängeschild für die regionalen Unternehmen, die mit Anlagenbau, Ausrüstung oder Energieversorgung daran beteiligt waren und sind. Morgens erst sei eine Besuchergruppe aus Stettin bei ihm gewesen, berichtet Geier. Die Polen stünden in der EU unter Druck, ihre Müllentsorgung zu modernisieren. Selbst Gäste aus Saudi-Arabien habe er in Rosenow schon empfangen.

Rund 100 Mitarbeiter hat die Anlage, die Hälfte ist im Außendienst unterwegs, die andere arbeitet vor Ort. Von der polnischen Grenze bis Neubrandenburg deckt OVVD ein Einzugsgebiet mit gut 500 000 Menschen ab. Der Müll wird akribisch getrennt. Die organischen Bestandteile unterliegen einer strengen Behandlung, bevor sie auf die Deponie kommen. Kunststoffe und andere brennbare Materialien werden gesammelt und im Kraftwerk im nahen Stavenhagen verheizt. Heraus kommt Strom unter anderem für die Pfanni-Fabrik. Die Müllanlage ist einer der größten Arbeitgeber der Region. Aber das Geschäft wird schwieriger, der Rohstoff knapper: "Hier leben immer weniger Menschen", sagt Geier, "jedes Jahr sinken unsere Mengen um drei bis vier Prozent. Wir müssen unseren Müll wirklich zusammensuchen."

Doch Geier ist zufrieden. Mitte der 90er-Jahre war er bei Planung und Bau der Anlage von Beginn an dabei. "Die Chance, so etwas zu bauen, bekommt man in Deutschland wegen der Gesetze und vieler Bürgerinitiativen nicht mehr so oft", sagt er vor den Monitoren im Kontrollraum. "Wir haben nach der Einheit die Gunst der ersten Stunde genutzt."

Unten, in der stickigen Luft der Halle, gräbt sich der Radlader in den Müllberg, daneben donnern die Förderbänder, Sortiermaschinen und Häcksler. Es muss ja nicht immer Kaviar sein.