Mit 31 war Utz Claassen ganz oben, mit 44 kam er unten wieder an. Was treibt einer der jüngsten Ex-Manager Deutschlands, wenn er nicht gerade über die Gier seiner Ex-Kollegen schreibt?

Hamburg. Kinder sprechen manchmal unangenehme Wahrheiten aus. "Papa hört nicht mehr so gut", hat die dreijährige Calaya vor Kurzem festgestellt. Calayas offenbar schwerhöriger Papa ist Utz Claassen. Diesen Satz seiner Tochter hat er noch sehr gut vernommen. Und eigentlich hat er sich sogar über ihn gefreut. Calaya und ihr Papa sehen sich jetzt nämlich öfter. Abends, wenn sie ins Bett muss, ist Utz Claassen mittlerweile meist zu Hause. Er liest ihr dann abwechselnd die Geschichten von Bambi und von Prinzessin Lillifee vor. Das sind ihre Favoriten. Früher hatte Utz Claassen für so etwas keine Zeit. Früher war Claassen ein mächtiger Wirtschaftsboss, gefürchtet, gehasst und von vielen beneidet. Mit 40 Jahren lenkte Claassen Deutschlands drittgrößten Energiekonzern EnBW. Er verdiente Millionen. Bis 2007. Dann kam der Bruch: Er wollte keinen neuen Vertrag, Frührentner mit 44 Jahren, jährlich 400 000 Euro Übergangsgeld. Vereinbart sind die Zahlungen, bis Claassen 63 Jahre alt ist.

Bärtiger, aber nicht mehr so bullig wie früher sitzt Claassen in der Lobby eines Hamburger Buchverlags. Vor ihm türmen sich Dutzende Exemplare seines neuen Werks. Claassen ist allein in das Verlagshaus gekommen. Kein Stab, kein Referent, kein Pressesprecher umgeben den 46-Jährigen. Auch keine Sicherheitsleute, die ihm früher seine Arbeitgeber stellten und die er auch mit zu McDonalds nahm, wenn ihm mal wieder nach einem Burger war. Es sieht beinahe nach Meditation aus, wie er bedächtig ein Buch nach dem anderen in die Hand nimmt. Jede Signatur muss sitzen. Claassen lässt sich Zeit. Die hat er momentan, vermutlich so viel wie zuletzt, als er noch in die Schule ging. Die vergangenen Monate hat er genutzt, dieses Buch zu schreiben. "Wir Geisterfahrer" (Murmann-Verlag) heißt es. Es ist eine Abrechnung: mit der Krisenpolitik der Bundesregierung, mit den Neidhammeln der Republik, aber auch mit der Gier und den Fehlurteilen der Managerkaste. Während er schrieb, hatte er Zeit zum Nachdenken, auch über sich, über das, was er war und wer er jetzt ist.

Glaubt man Claassen, geht es ihm sehr gut damit, wie es ist. "Ich vermisse die Macht nicht", sagt er, und: "Ich habe meinen Abgang bei EnBW keine Sekunde bereut." Geld hat er genug. Weil ihm Transparenz wichtig war, veröffentlichte er 2004 sein Gehalt: 4,17 Millionen Euro. Politiker und andere Manager schrien auf. "Als ich mein Gehalt offenlegte, wollte ich nicht damit protzen", sagt Claassen.

Über seinen Ausstieg beim baden-württembergischen Stromversorger wurde seinerzeit heftig spekuliert. Ganz freiwillig sei der nämlich nicht erfolgt, hieß es immer wieder. Damals ließ sich Claassen frühzeitig aus seinem Vorstandsvertrag befreien. Angeblich hatten einige Aufsichtsratsmitglieder bereits einen Nachfolger gesucht. Claassens Verhältnis zu einzelnen Landräten aus dem Verwaltungsrat des EnBW-Großaktionärs Oberschwäbische Elektrizitätswerke (OEW) galt als gespannt. Der Manager jedenfalls nannte persönliche Gründe für die Demission. Seine Frau Annette habe ihn zu dem Rückzug gedrängt und ihn ermuntert, sich neuen Horizonten zuzuwenden. Einer der neuen Horizonte Claassens ist das Schreiben. Die Macht des Wortes hat es ihm angetan.

Es gibt genug Menschen, die ihn ärgern möchten, vielleicht aus Neid gegenüber dem ewigen Überflieger, vielleicht auch aus persönlicher Rache gegenüber dem als Rambo geltenden Machtmenschen, sie alle stellen ihm inzwischen diese eine Frage: "Was machen Sie jetzt überhaupt?" So eine Frage impliziert, dass man im Moment nichts ist, zumindest nichts, was öffentlich wahrgenommen wird. Claassen muss da durch. Für viele ist er jetzt ein Ehemaliger. Ein Status, mit dem er bald zwei Jahre zu leben hat. Vorher war er mehr als zehn Jahre lang Vorstand mehrerer Unternehmen. Und bis dahin war er immer nur aufgestiegen. 1981 machte er erstmals von sich reden, weil er sein Abitur mit der Note 0,7 bestand - mit 17 Jahren. Er studierte BWL, promovierte mit 25, ging zu McKinsey, zu Ford und Volkswagen, wurde Vizepräsident der VW-Tochter Seat. Mit 31 Jahren. Seitdem war er nur noch Chef.

Das Leben, findet Claassen, ist jetzt besser, irgendwie authentischer. Auch in seiner Haut fühlt er sich wohler. Innerhalb von zwei Jahren speckte er 30 Kilo ab. Aber das allein ist es nicht. Früher habe er "in einer teilweise artifiziellen Welt gelebt", sagt er. "Ich habe mich bemüht, nicht abgehoben zu sein." Zwischen damals und heute liegt nur ein Sommer, aber Claassens Leben hat sich tief greifend verändert. "Als Konzernlenker sind 95 Prozent der Zeit letztlich fremdbestimmt. Man ist nicht mehr wirklich Herr über seinen Terminkalender." Der 30. September 2007, der letzte Tag als Chef von EnBW, war der Gang in die eigene Freiheit: "Seit knapp zwei Jahren lebe ich in einer weitgehend normalen Welt."

Vorher, in der unnormalen Welt, nannten seine Verehrer ihn einen genialen Sanierer, seine Feinde bezeichneten ihn als brutalen Planierer. Und jetzt schweigen sie alle über ihn. Er ist ja auch nicht mehr dabei, im Spiel der ganz Großen. "Bei manchen bin ich von der Einladungsliste verschwunden." Damit hatte Claassen gerechnet. Und trotzdem hat er das Gefühl, im Moment mehr zu sein, als er jemals war. "Ich stehe jetzt in einem viel weiteren Kontext als früher."

Er, der gerade seinen Lebensweg aufarbeitet und sich die Ruhe für kluge Gedanken nimmt, für Vorschläge, wie das Land vorankommen kann, für Ideen, wie die Demokratie um ihrer Glaubwürdigkeit willen sich weiterentwickeln müsste: Will man so einen eigentlich hören? Interessieren die Gedanken eines Mannes, der gerade keine Macht ausübt, der gerade nichts Wichtiges ist? Claassen sieht das so: Er mag im Moment jemand sein, der anscheinend nichts Wichtiges darstellt, dafür aber Wichtiges tut. Auch ohne formale Macht arbeite er viel und erfülle zahlreiche Aufgaben, so Claassen, etwa als Honorarprofessor an der Uni Hannover. Er hält Vorlesungen, gibt Seminare und korrigiert Hunderte von Arbeiten. "Toll" sei der wissenschaftliche Betrieb, aber auch nichts, was ihn auf Dauer ausfüllen würde.

Claassen sieht sich als Generalist. Er könnte auch einen Kosmetikkonzern leiten, vielleicht sogar in die Politik gehen, aber dann wohl nur als Parteiloser. Er schätzt Sahra Wagenknechts Intellekt genauso wie den Angela Merkels, er lobt die ordnungspolitische Haltung von Guido Westerwelle ebenso wie Jürgen Trittins Glaubwürdigkeit. Politik fasziniert ihn, auch das Sendungsbewusstsein, das von ihr ausgeht. Um mehr Gehör zu finden, müsste er eigentlich wieder irgendwo Vorstand werden. Das weiß auch er. "Die meisten Menschen definieren einen über seine berufliche Position, aber nicht über seine inhaltlichen Positionen."

Für etliche Kollegen seiner Zunft indes hat Claassen heute nur Verachtung. "Masters of the Universe" glaubten manche Firmenbosse zu sein, schreibt Claassen in seinem Buch und zitiert einen Vorstandsvorsitzenden, ohne dessen Namen zu nennen: "Als Konzernchef will man ja auch nur noch den Himmel über sich haben." Er ist enttäuscht von den Bossen der Republik, die sich als "Verhaltenselite" definieren, aber nicht als "Leistungselite", die Deutschland so dringend braucht. Dass Claassen Leistung lieferte und gut wirtschaftete, stellt niemand infrage. "Ich habe in meiner Zeit als Finanzvorstand und Vorstandsvorsitzender insgesamt 54 Quartalsergebnisse verantwortet. 53-mal haben wir die Ziele im Wesentlichen erfüllt oder auch deutlich übererfüllt. Nur einmal, im vierten Quartal 2000, lag ich voll daneben." Damals war er Chef bei Sartorius, einem internationalen Labor-Anbieter. Er habe die Sparte Biotechnologie unterschätzt und dadurch Probleme nicht rechtzeitig erkannt, gibt er zu.

53:1 - diese Erfolgsbilanz bewahrte ihn trotzdem nicht vor Negativschlagzeilen. Oft ging es um seinen als rabiat geltenden Führungsstil. Claassen verteidigt sich: "In meinem Verhalten und im Umgang mit Mitarbeitern war ich nie ein brutaler Chef. Aber im Rahmen von Sanierungen sind immer unangenehme Entscheidungen nötig." Es gebe also auch immer "Veränderungsverlierer", weiß Claassen, und meistens seien es die Menschen an der Basis, die den Preis für Missmanagement zahlen und entlassen werden. Er aber habe "die Treppe von oben gefegt und nicht von unten". Er habe sich bei seinen Sanierungen zum Teil sehr zügig von Managern getrennt, sofern sie die Probleme des Unternehmens verursacht hatten oder mit der Problemlösung überfordert waren. "Dass die Betroffenen dann nicht gut über einen reden, liegt in der Natur der Sache", findet Claassen. Es waren so einige, die nicht gut über ihn redeten. Und Claassen weiß ziemlich genau, wie viele Führungskräfte unter ihm gehen mussten. "Alle Berufsstationen zusammengerechnet, habe ich mich von etwa 200 Managern getrennt."

Es gab auch Probleme mit der Justiz, die Claassens Ruf beschädigten. Einmal ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen angeblicher Vorteilsgewährung gegen ihn. Claassen hatte mehreren Landespolitikern Gutscheine für Freikarten bei der Fußball-WM 2006 geschickt. Er wurde freigesprochen. Als ein Düsseldorfer Lokalpolitiker Claassen mit Ugandas Diktator Idi Amin verglich, zerrte der Konzernboss den SPD-Mann vor Gericht. Das Verfahren endete mit dem Versprechen des Politikers, diesen Vergleich nie wieder zu ziehen. Claassen wehrt sich gegen jeden Versuch, ihn in die kriminelle Ecke stellen zu wollen. "Ich bin unkorrumpierbar und unkäuflich. Das attestieren mir sogar meine ärgsten Feinde."

Weil er inzwischen als sogenannter Senior Principal Advisor beim US-Finanzinvestor Cerberus - manche bezeichnen die Firma als Heuschrecke - tätig ist, verweigert ihm die EnBW seit Jahresbeginn seine Pension. Aus Sicht des Ex-Arbeitgebers ist "mit der Aufnahme dieser Tätigkeit der Grund für die Zahlung des Übergangsgelds entfallen". Auch dagegen klagt Claassen, weil er seine Aufgabe bei Cerberus als Honorartätigkeit sieht. Man wird sich am 6. August vor Gericht treffen. Mit Gier habe seine Klage nichts zu tun, sagt Claassen, sondern mit Vertragstreue.

Zieht es einen 46 Jahre alten, millionenschweren Ex-Manager, der sich um knapp 400 000 Euro Jahresbezüge streiten will, nicht doch zurück in die höchsten Etagen der Wirtschaftsmacht? "Ich kann und will nicht ausschließen, dass ich eines Tages in eine CEO-Position zurückkehre." Gerhard Schröder habe ihm einmal den Rat gegeben: "Mach nur noch das, was dir wirklich gefällt. Nimm nur solche Angebote an, bei denen du nach deinen Wünschen gestalten kannst." So ein Angebot gab es sogar vor einem Jahr. "Ich habe es aus vorrangig familiären Gründen abgelehnt." Claassen hätte ständig zwischen Europa und Amerika hin- und herpendeln müssen.

Er kann warten. Als EnBW-Chef hat er seine Calaya zu selten erlebt. Den Fehler macht er nun wieder gut. "Früher habe ich meine Tochter manchmal nur einmal in der Woche spätabends gesehen. Jetzt sehe ich sie drei- bis fünfmal." Früher war ihm die Macht wichtig, heute ist es die Verantwortung.