Europäische Zentralbank kauft Staatsanleihen. Unklar bleibt, wie Europa seine Schulden abbauen kann. Eine Analyse

Hamburg. Hauptsache flüssig. Die Europäische Zentralbank (EZB) achtet in dieser krisenhaften Zeit peinlich genau darauf, dass die Liquidität von Staaten und Finanzinstituten in der Euro-Zone gesichert ist - trotz wachsender Inflation. Die Angst vor Austrocknung an den Märkten ist groß und damit das Risiko, dass die Finanzströme erneut stocken. Die Leitzinsen von 1,5 Prozent würden derzeit nicht angehoben, sagte EZB-Präsident Jean-Claude Trichet gestern nach der Sitzung des Zentralbankrats in Frankfurt. Die europäische Notenbank werde auch weiterhin Staatsanleihen angeschlagener Euro-Mitgliedsländer ankaufen. Zuletzt betraf dies vor allem Portugal, Griechenland und Irland. Und man werde die Geschäftsbanken vorerst weiter mit Liquidität zu günstigen Konditionen versorgen, sagte Trichet.

Harte Wochen liegen hinter Finanzpolitikern und Notenbankern in den Vereinigten Staaten und Europa. Die USA weiten nach einem quälenden Politpoker zwischen Demokraten und Republikanern im letzten Moment ihre Schuldenobergrenze aus. Griechenland erhält von den Euro-Mitgliedstaaten weitere Finanzhilfen, und für Krisenkandidaten wie Portugal ist unter dem Euro-Rettungsschirm zunächst Vorsorge getroffen. An den Märkten macht sich dennoch Pessimismus breit. Denn die Anleger wissen, dass die Finanzprobleme Europas und der USA nicht gelöst sind. Die Schuldenstände steigen weiter und belasten damit auch die Perspektiven für die Wirtschaft.

Die europäische Politik bestärkt diese Sorgen. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso regte gestern eine Aufstockung des Euro-Krisenfonds ESFS an, der zurzeit ein Volumen von 440 Milliarden Euro hat. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder mahnte er in einem Brief zu einer "raschen Überprüfung aller Elemente des EFSF". Die Regierungen müssten sicherstellen, dass der Fonds "über die Mittel verfügt, um Ansteckungsgefahren zu bekämpfen".

Der deutsche Aktienindex DAX fiel gestern weiter auf 6415 Punkte. "Alle wissen, dass viele Staaten über ihre Verhältnisse gelebt haben, aber niemand hat eine Lösung, wie das Problem in den Griff zu bekommen ist", sagte ein Börsenhändler in Frankfurt.

Als in den 90er-Jahren die Einführung des Euro vorbereitet wurde, schufen die daran beteiligten Staaten der EU eine Reihe von Regeln, damit die Gemeinschaftswährung stabil und solide werde. Eines der sogenannten Maastricht-Kriterien besagt, dass die Staatsverschuldung nicht über 60 Prozent der jeweiligen jährlichen Wirtschaftsleistung eines Landes liegen solle. Mit der Weltfinanzmarktkrise von 2008 bis 2010 wurde dieses, wie so viele andere finanzpolitische Ziele, Makulatur. Die EU-Länder und die EZB pumpten Hunderte Milliarden Euro an Krediten und Konjunkturprogrammen in die Märkte, um die angeschlagene Wirtschaft funktionsfähig zu halten. In den USA halfen die Regierung und die Notenbank Federal Reserve noch wesentlich bedenkenloser mit Geld nach.

Als Folge dessen stiegen die staatlichen Schuldenstände in vielen Ländern noch einmal dramatisch an: Deutschland steht mit rund 82 Prozent Schuldenquote nach den Maßstäben dieser Tage noch fast normal da. Italien verzeichnet 120 Prozent Staatsverschuldung, Griechenland treibt auf rund 160 Prozent zu, die USA erreichen derzeit 100 Prozent ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung - mehr als 14 300 Milliarden Dollar Verbindlichkeiten sind dort mittlerweile aufgelaufen.

Wachsende Schulden bedeuten tendenziell steigende Zinsen. Die immensen Schuld- und Zinsdienste - im Bundeshaushalt sind sie der zweitgrößte Etat nach den Sozialausgaben - schmälern den Spielraum der Haushaltspolitiker. Er bedroht aber auch, wie derzeit vor allem in Südeuropa, die Bonität der einzelnen Staaten, die von Rating-Agenturen wie Moody's oder Standard & Poor's beurteilt wird. Je schlechter die Zahlungsfähigkeit eines Staates, desto mehr Zinsen muss er seinen Anlegern als Risikoprämie zahlen. Mit ihren Schulden stehen die Staaten vor einem Dilemma: "Ich bin pessimistisch, was Südeuropa und auch die USA betrifft", sagt der Ökonom Professor Karl-Werner Hansmann von der Universität Hamburg. "Die Wirtschaft in Griechenland schrumpft, in den USA wächst sie nur wenig. Zugleich setzen diese Länder gegen die Neuverschuldung harte Sparprogramme um. Einschnitte bei den Staatsausgaben aber dämpfen das Wirtschaftswachstum. Das ist ein Teufelskreis."

Von dem Ziel, Überschüsse im Staatshaushalt zu erzielen und damit Schulden abzutragen, haben sich die meisten Staaten in der EU und auch die USA längst verabschiedet. Am weitesten ist die Debatte in Deutschland gediehen: Hierzulande soll zumindest die Nettoneuverschuldung mithilfe der "Schuldenbremse", die im Grundgesetz verankert ist, bis zum Jahr 2020 gestoppt werden. Der Bund darf bereits von 2016 an im Prinzip keine neuen Schulden mehr anhäufen, die Länder bekommen etwas länger Gnadenfrist. "Die Schuldenbremse im Grundgesetz ist richtig und sinnvoll", sagt Professor Michael Bräuninger, Chefökonom des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI). "Wenn wir die Neuverschuldung hierzulande stoppen können, ist schon sehr viel gewonnen." Denn dann, so Bräuninger, könnten die vorhandenen Staatsschulden - sie liegen derzeit bei rund 2000 Milliarden Euro - in einem längeren Zeitraum in der Relation zur jährlichen Wirtschaftleistung quasi abschmelzen. Die Schuldenquote würde wieder sinken. Voraussetzung dafür ist aber, dass die deutsche Wirtschaft weiterhin dauerhaft wächst.