Professor Hans Wolfgang Brachinger hatte nach der Bargeldeinführung des Euro einen Index der wahrgenommenen Inflation (IWI) entwickelt.

Hamburg. Preiserhöhungen bei Lebensmitteln und Energie treiben die amtliche Inflationsrate in Deutschland an. Mit zwei Prozent liegt sie so hoch wie seit zwei Jahren nicht mehr. Doch viele Bürger meinen, dass die Preissteigerung viel stärker ausfällt. Und ihr Gefühl trügt sie nicht, sagt der Schweizer Wirtschaftsprofessor Hans Wolfgang Brachinger, 59, im Abendblatt. Er hatte nach der Bargeldeinführung des Euro, der schnell den Beinamen Teuro erhielt, einen Index der wahrgenommenen Inflation (IWI) entwickelt.

Abendblatt: In Europa geht ein Gespenst um. Angesichts hoher Staatsverschuldungen wächst die Angst vor Inflation und damit einer stärkeren Geldentwertung. Ist diese Sorge berechtigt?

Hans Wolfgang Brachinger: Durchaus. Weltweit klettern die Rohstoffpreise an allen Fronten, die wachsende Nachfrage der Schwellenländer treibt die Energiepreise hoch, die Notenbanken betreiben eine expansive Geldpolitik. Hinzu kommen hohe Lohnabschlüsse - der Inflationsdruck ist gewaltig. In Deutschland wird nach meiner Einschätzung die Inflationsrate in diesem Jahr auf über drei Prozent steigen. In Europa wird sie noch höher ausfallen.

Aktuell liegt die Inflationsrate in Deutschland bei zwei Prozent. Dennoch empfinden viele Bürger die Preissteigerungen als höher. Woran liegt das?

Brachinger: Der Bürger bemisst die Inflation vor allem an den Preissteigerungen, die er bei seinen täglichen Einkäufen wahrnimmt. Da sich Lebensmittel und Energie in den vergangenen Monaten besonders verteuerten, wird die Inflation als deutlich höher eingeschätzt.

Sie haben dafür einen eigenen Index der wahrgenommenen Inflation (IWI) entwickelt, der die "gefühlte" Inflation erfasst. Wie steht dieser aktuell da?

Brachinger: Der Index der gefühlten Inflation liegt im Januar bei 4,5 Prozent, im Dezember waren es 5,2 Prozent.

Das ist ja gut doppelt so hoch wie die amtliche Statistik. Wie wird sich der Index in diesem Jahr weiterentwickeln?

Brachinger: Ich befürchte, dass der IWI bis Mitte 2011 bis gegen zehn Prozent steigen wird.

Wurde ein so hoher Wert bisher schon mal erreicht?

Brachinger: Bisher gab es zwei Hochphasen des IWI: Nach der Euro-Einführung lag die gefühlte Inflation in Deutschland mit elf Prozent erstmals besonders deutlich über dem damals amtlichen Wert von 2,1 Prozent. Zwischen Oktober 2007 und August 2008 überstieg der IWI regelmäßig die Zehn-Prozent-Marke. Danach rutschte er zwischen Ende 2009 bis März 2010 ins Minus und lag damit unter den Werten der amtlichen Statistik. Seither steigt der Index wieder kontinuierlich an.

Nach welchen Kriterien ermitteln Sie die "gefühlte Inflation"?

Brachinger: Unser Index basiert - wie auch der amtliche Verbraucherpreisindex - auf dem Warenkorb des deutschen Durchschnittshaushalts. Allerdings gewichten wir die Produkte aus dem Warenkorb anders. Während für den amtlichen Index hochpreisige Produkte - wie TV-Geräte - ein größeres Gewicht einnehmen, konzentrieren wir uns stärker auf die häufig gekauften Produkte des täglichen Bedarfs. Man kauft Brötchen, Milch oder Benzin eben öfter als Elektrogeräte. Ein Gut ist in unserem Index also dann besonders wichtig, wenn es häufig gekauft wird, und nicht, wenn es viel kostet.

Spielt auch Psychologie eine Rolle?

Brachinger: Ja. Verbraucher bewerten die Preise im Vergleich zu Referenzpreisen, die sie aus ihrer Erfahrung kennen. Und Preissteigerungen werden von den Käufern wesentlich höher bewertet als Preissenkungen. Wenn ich beispielsweise zum Tanken fahre, habe ich im Kopf, was ein Liter Benzin zuletzt in etwa kostete. Liegt der aktuelle Preis über diesem Referenzpreis, so reagiere ich sauer. Liegt der Preis darunter, so bin ich zufrieden und schenke dem weniger Aufmerksamkeit. Die Psychologen nennen das Verlustaversion.

Diese Verlustaversion ist aber doch individuell verschieden?

Brachinger: Die Empfindlichkeit variiert mit dem Preisniveau. Wenn das Brötchen plötzlich fünf Cent mehr kostet, registriert man das natürlich stärker, als wenn ein TV-Gerät einen Euro teurer wird. Die Empfindlichkeit variiert auch mit dem verfügbaren Einkommen. Wenn ich knapp bei Kasse bin, reagiere ich empfindlicher.

Welche Auswirkungen hat eine hohe gefühlte Inflation auf das Kaufverhalten?

Brachinger: Bei Gutverdienenden werden die höheren Ausgaben für Lebensmittel durch die sinkenden Preise bei langlebigen Produkten wie Fernseher oder Kameras ausgeglichen - hier ändert sich kaum etwas. Doch schon bei Normalverdienern dürfte sich das Kaufverhalten verschieben. Sie ärgern sich zwar, dass die Butter teurer wird, kaufen sie aber trotzdem, weil sie ihren gewohnten Lebensstandard nicht senken möchten. Da dann aber weniger zum Sparen bleibt, legen sie ein "Inflationspolster" an. Das heißt: Um gegen weitere Preissteigerungen gewappnet zu sein, halten sich diese Verbraucher beim Kauf langlebiger Konsumgüter eher zurück und verschieben sie. Diese Gruppen sichern sich in erster Linie ihren Lebensstandard im Alltag, den Kino- oder Restaurantbesuch.

Wie steht es um Geringverdiener?

Brachinger: Menschen mit niedrigem Einkommen sind von steigenden Lebensmittelpreisen am stärksten betroffen. Geringverdiener müssen auch ihren alltäglichen Konsum deutlich einschränken. Da Menschen mit geringem Einkommen in der Regel kein Geld fürs Sparen haben, können sie nicht von ihren Reserven zehren.

Inwieweit hinterlassen hohe gefühlte Inflationsraten Spuren beim Konsum?

Brachinger: Die gefühlte Inflation ist für die Konsumneigung der Verbraucher sehr viel wichtiger als der amtliche Wert. Wer eine hohe Inflation wahrnimmt, ist morgen bei seinen Einkäufen vorsichtig - und umgekehrt. Die hohe gefühlte Inflation wird die Konsumneigung in diesem Jahr bremsen. Deshalb halte ich die Wachstumsprognose der Bundesregierung für 2011 für zu optimistisch. Das prognostizierte Wachstum von 2,2 Prozent wird nicht erreicht.

Welche Inflationsrate ist die richtige?

Brachinger: Der amtliche Verbraucherpreisindex ist als Indikator für die allgemeine Geldentwertung gemacht - und damit für die Notenbanken interessant. Er ist aber auch für Lohnverhandlungen der adäquate Index. Für den Bürger ist er vergleichsweise unbedeutend. Der Verbraucher verlässt sich bei seinen Einkäufen vielmehr auf seine subjektive Inflationswahrnehmung. Diese wird durch den IWI erfasst.