Anleger haken Euro-Krise offenbar ab. Unruhen in Afrika und gestiegene Ölpreise gelten nur als kleine Risiken für den Aufschwung am Aktienmarkt

Hamburg. Ungeachtet der weiter schwelenden Schuldenkrisen und der aktuellen politischen Turbulenzen südlich des Mittelmeers haben die Aktienmärkte auf ihrem Erholungskurs bedeutsame Marken erreicht. Der Deutsche Aktienindex (DAX) notierte gestern im frühen Handel mit mehr als 7200 Punkten und damit so hoch wie zuletzt im Mai 2008, also vor der Wirtschaftskrise. Zuvor hatte der Dow-Jones-Index in New York erstmals seit dem Juni 2008 mit mehr als 12 000 Zählern geschlossen.

Dabei ist nach Einschätzung von Experten das Potenzial noch längst nicht ausgereizt. "Das Umfeld spricht ganz klar für Aktien", sagt Jochen Intelmann, Chefvolkswirt der Haspa, dem Abendblatt. "Fundamental gesehen wären noch deutlich höhere Kurse möglich, die Rahmendaten sind nach wie vor sehr positiv." So seien die Zinsen weiterhin niedrig, der Anleihemarkt biete keine attraktive Alternative, außerdem dienten Aktien für den Fall spürbar anziehender Preissteigerungsraten als Inflationsschutz. Darüber hinaus habe sich ein Schreckgespenst, das im vergangenen Jahr über der Börse schwebte, zuletzt weitgehend verflüchtigt: "Die Angst vor einem Euro-Zerfall wird jede Woche geringer." Vor diesem Hintergrund bestätigt Intelmann seine optimistische Prognose: "Wir gehen davon aus, dass der DAX im ersten Halbjahr 2011 den historischen Höchstkurs von rund 8100 Punkten anpeilen kann."

Ähnlich beurteilt Holger Schmieding, Chefvolkswirt des Hamburger Privatbankhauses Berenberg, die Situation: "Entgegen den Erwartungen vieler Marktteilnehmer hat sich die Euro-Schuldenkrise im Januar eher entspannt als zugespitzt." Und die jüngsten Nachrichten von der Weltkonjunktur seien "eher noch besser als erwartet", etwa gemessen an den sehr hohen Werten für die Einkaufsmanagerindizes im verarbeitenden Gewerbe.

Diese Faktoren stünden den Unruhen im Nahen Osten und dem Anstieg der Ölpreise in den zurückliegenden Tagen entgegen. Gleichwohl seien die Märkte "sehr nervös", daher hält Schmieding eine "kurzfristige Korrektur" für durchaus möglich.

Noch setzt ein Großteil der Anleger aber offenbar darauf, dass sich die Lage in Nordafrika schließlich beruhigt und die Proteste nicht in einen Bürgerkrieg münden - abgesehen davon, dass die ökonomische Bedeutung der betroffenen Länder begrenzt ist. "Ägyptens Volkswirtschaft kann man im Volumen mit der von Portugal vergleichen - und das entspricht einem Drittel der Wirtschaftsleistung Bayerns", sagt Intelmann. Auch die Befürchtungen, der Suezkanal könne blockiert werden, hielten sich in Grenzen.

Zwar würden 2,5 Prozent der globalen Ölproduktion durch den Kanal transportiert und zehn Prozent des Seehandels nutzte diesen Weg. "Aber jede ägyptische Regierung muss daran interessiert sein, diese Einnahmequelle zu erhalten", so Intelmann. Ebenso hat sich noch nicht die Angst breitgemacht, die Turbulenzen könnten in ähnlichem Umfang auf andere Staaten im Mittleren Osten übergreifen.

"Am Markt erwartet man derzeit nicht, dass die Unruhen in Nordafrika Auswirkungen auf die Stabilität von wichtigen Ölförderländern haben", sagt Matthias Thiel, Kapitalmarktstratege beim Hamburger Privatbankhaus M.M. Warburg & CO. "Man geht zudem davon aus, dass solche Staaten größere Spielräume haben, einen Anstieg der Nahrungsmittelpreise - einer der Auslöser der Proteste in Tunesien und Ägypten - zu begrenzen."

Dennoch hat der Ölpreis zuletzt auf bis zu 102 Dollar je Barrel (159 Liter) für die Nordseesorte Brent zugelegt. So viel hatte Nordseeöl zuletzt vor 28 Monaten gekostet. Zwar spielten die Unruhen in Nordafrika dabei eine Rolle, aber nach Ansicht von Fachleuten nicht die dominierende. "Der Anstieg des Ölpreises in den vergangenen Wochen ist vor allem eine Folge der Wirtschaftserholung", sagt Claudia Kemfert, Energieexpertin beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, dem Abendblatt. Daneben erkenne man allerdings "eine Preisbewegung, die sich nicht mit fundamentalen Marktfaktoren erklären lässt, sondern eher die Sorge vor Angebotsengpässen widerspiegelt". Es liege auf der Hand, dass mit den hohen Wachstumsraten in den Schwellenländern auch deren Energiebedarf zunimmt: "Die Ölnachfrage dürfte in diesem Jahr auf 87 Millionen Barrel pro Tag steigen, das entspricht etwa dem Niveau von vor der Krise", so Claudia Kemfert.

Allerdings habe in den vergangenen Wochen auch das ungewöhnlich kalte Winterwetter auf der nördlichen Halbkugel die Ölpreise hochgetrieben, meinen die Rohstoffexperten bei Credit Suisse. Sie rechnen für die kommenden Monate "zunächst mit einem gewissen Preisrückgang und einer anschließenden Stabilisierung" des Preises.

Das aktuell teure Öl werde zwar Europas Inflation anheizen, aber keine negativen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben, meint Fatih Birol, Chefvolkswirt der Internationalen Energieagentur (IEA).

Auch mit einer Beeinträchtigung des Ölhandels wegen der Unruhen in Ägypten rechnet der Experte nicht. Nach Ansicht der IEA bestehe keine Gefahr für den Schiffsverkehr im Suezkanal, sagte Birol der Nachrichtenagentur Reuters. Falls eine Notlage eintreten sollte, habe die IEA große Vorräte, die freigegeben werden könnten.