Ringen um den Stundensatz im Einzelhandel: Allein in Hamburg sind rund 60.000 Beschäftigte betroffen. Ver.di lobt das Unternehmen Lidl.

Hamburg. Schwarze Haare, blasse Haut, ein verschreckter Gesichtsausdruck - die 47-Jährige sieht nicht so aus, als würde sie sich öffentlich mit einem Handelskonzern mit Milliardenumsätzen anlegen. Die Frau aus Mülheim an der Ruhr hat es aber gewagt: Weil sie bei der Tengelmann-Tochter Kik nur 5,20 Euro pro Stunde verdiente, zog sie 2008 vor Gericht. Das Urteil gilt als Präzedenzfall, denn der Richter stufte den Lohn als "sittenwidrig" ein und befahl Nachzahlungen von mehr als 9000 Euro. "Eine Vergütung in dieser Größenordnung ist für Minijobber durchaus üblich", verteidigte der Kik-Anwalt den Niedriglohn damals.

Die Zeiten solcher "Vergütungen" gehen allmählich dem Ende zu. Und das nicht nur bei der Textilkette Kik, die seit Oktober nach eigenen Angaben allen Mitarbeitern mindestens 7,50 Euro pro Stunde zahlt. Für den gesamten Einzelhandel mit bundesweit 2,9 Millionen Beschäftigten rückt ein Mindestlohn näher, den die Gewerkschaft Ver.di derzeit mit dem Handelsverband HDE auslotet. "Mit der Lohnentwicklung nach unten muss Schluss sein", sagte HDE-Geschäftsführer Heribert Jöris dem Abendblatt.

Für die Einzelhandelsbranche wäre ein Mindestlohn eine radikale Abkehr vom Lohndumping. "Es ist verbreitet, dass Vollzeitbeschäftigte nicht von ihrem Gehalt leben können", sagt Björn Krings von Ver.di Hamburg, der die 60 000 Mitarbeiter im Einzelhandel der Hansestadt vertritt. Vor einem Jahr hatte der Senat Zahlen veröffentlicht, die belegen, dass allein in Hamburg jeder sechste Hartz-IV-Aufstocker im Handel arbeitet - also zum Beispiel als Verkäufer so wenig verdient, dass er zusätzlich Arbeitslosengeld II bezieht. Den Steuerzahler haben bundesweite Aufstocker aus allen Branchen 2009 immerhin elf Milliarden Euro gekostet.

Solche Fälle werden immer häufiger: Laut einer aktuellen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung werden nur noch 53 Prozent aller Beschäftigten im Einzelhandel nach Tarifgehältern entlohnt. Vor zehn Jahren waren es hingegen noch 100 Prozent: Bis zum Jahr 2000 hatte die Allgemeinverbindlichkeitserklärung gegolten, die selbst Einzelhändler ohne Tarifvertrag verpflichtete, die Standards der tarifgebundenen Konkurrenten einzuhalten.

Das soll ab Mitte des kommenden Jahres wieder zur Regel werden. Für den Handelsverband steht nicht nur das Image der Branche auf dem Spiel, sondern auch die Angst vor Wettbewerbsverzerrung durch Dumpinglöhne. "Der Preiskampf im Handel darf nicht länger auf Kosten der Beschäftigten ausgetragen werden", fordert auch Ver.di-Mann Krings. Auf die Höhe des Mindestlohns wollen sich Ver.di und der HDE im kommenden Frühjahr einigen, wenn die Tarifverhandlungen der Einzelhändler in allen Bundesländern abgeschlossen sind. Aktuell beträgt der tarifliche Stundenlohn für eine ungelernte Aushilfe in Hamburg 7,84 Euro, in den ostdeutschen Bundesländern sind die Summen niedriger.

Angesichts des Aufschwungs stehen die Zeichen zwar bundesweit auf Lohnzuwachs, der Konflikt ist dennoch programmiert: Während der Handelsverband die Einstiegsstundenlöhne der aktuellen Tarifverträge zwischen sieben und 8,80 Euro je nach Region für diskutabel hält, wollen die Arbeitnehmervertreter für höhere Summen kämpfen. "Das wird sich in Richtung zehn Euro bewegen", sagte eine Ver.di-Sprecherin dem Abendblatt.

Die Zehn-Euro-Forderung hat dieser Tage Konjunktur. Nicht nur die Partei Die Linke will einen gesetzlichen Mindestlohn für alle Branchen in dieser Höhe etablieren. Auch dem Deutschland-Chef der Discountkette Lidl war am Dienstag mit derselben Forderung mediale Aufmerksamkeit gewiss. Für den Hamburger Lidl-Betriebsrat Tayeb Azzab ist das "scheinheilige Imagepflege" - schließlich zahlt die Kette bereits Löhne ab zehn Euro pro Stunde. "Für mich passt das nicht zusammen", sagt Azzab. "Nach außen heile Welt und drinnen leiden die Beschäftigten unter den Arbeitsbedingungen."

Von Ver.di gibt es für Lidl trotzdem Lob: Der Discounter habe bewiesen, dass ein Unternehmen einen Mindestlohn von zehn Euro zahlen und trotzdem ein Marktführer bleiben kann.