Kein Discounter expandiert stärker als Netto, der Marktanteil steigt. Gewerkschafter beklagen rigide Sparvorgaben und niedrige Löhne.
Hamburg. Netto-Chef Franz Pröls nannte es eine "Herkulesaufgabe": Im Spätsommer verkündete Deutschlands drittgrößte Billigkette, man habe endlich die Umstellung von 2300 Märkten des übernommenen Konkurrenten Plus abschließen können - unter Einsatz von 250 000 Schrauben und 245 000 Litern weißer Farbe. Ein Kraftakt, der ohne das "Engagement unserer Mitarbeiter" nicht möglich gewesen wäre, so der Chef. Doch damit nicht genug: In diesem und im kommenden Jahr will das Tochterunternehmen der Hamburger Supermarktkette Edeka noch einmal bis zu 600 Filialen in Deutschland eröffnen. Kein anderer Discounter wächst schneller. Mit mehr als 3900 Filialen ist das deutsche Netz von Netto Marken-Discount mit seinem gelb-roten Logo schon heute dichter als das von Lidl. "Die Kunden schätzen unser großes Angebot an günstigen Markenartikeln und nehmen die neuen Filialen gut an", sagt Firmensprecherin Christina Stylianou.
Doch die starke Expansion hat immense Schattenseiten. "Das Wachstum von Netto wird auf dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen", sagt Arno Peukes, Fachbereichsleiter Handel bei der Gewerkschaft Ver.di in Hamburg. Die Geschäftsführung versuche, auf jede nur erdenkliche Weise die Kosten in den Märkten zu drücken. "Es herrscht ein Klima der Angst und Einschüchterung, das schlimmer ist als bei Schlecker oder Lidl."
Seit Monaten schon erreichen den Gewerkschafter zahlreiche Hilferufe aus den rund 40 Märkten, die sich derzeit im Großraum Hamburg befinden. "Besonders Mitarbeiter, die auch früher schon bei Plus gearbeitet haben und noch alte, meist besser dotierte Arbeitsverträge besitzen, werden gezielt unter Druck gesetzt", so der Gewerkschafter. "Sie sollen neue Verträge zu schlechteren Konditionen unterschreiben, ihre Stundenzahl reduzieren oder am besten gleich kündigen."
Eine von ihnen ist Gabi Meyer*, die einen Netto-Markt im Großraum Hamburg leitet. "Sechs Jahre habe ich für Plus gearbeitet, ohne dass es Probleme gab", erzählt die junge Frau. Doch nach der Übernahme durch Netto sei den neuen Vorgesetzten nichts mehr recht gewesen. "Mal bemängelten sie den Staub unter der Tiefkühltruhe, dann wurde ich vor der Kundschaft angebrüllt, weil Waren im Regal nicht richtig eingeordnet waren", sagt die Filialleiterin, die aus Angst ihren wahren Namen nicht nennen will.
Gleichzeitig wurde die Zahl der Mitarbeiter, mit denen sie den Markt führen sollte, immer weiter reduziert. "Angefangen haben wir mit 16 Personen, jetzt sind es mit Lehrlingen noch sieben." Schließlich wurde Gabi Meyer von zwei Vorgesetzten, einer Verkaufs- und einer Gebietsverkaufsleiterin, zum Gespräch gebeten. "Es hieß, ich sei überfordert und sollte doch lieber nur noch 20 statt bislang 42 Stunden in der Woche arbeiten", erzählt die Marktleiterin. "Dabei war ich dem Unternehmen schlicht zu teuer." Aufgrund ihres alten Plus-Vertrags verdiene sie mit 2700 Euro brutto derzeit nämlich mehr als ihre direkten Vorgesetzten.
Ein ähnliches Erlebnis hatte auch der stellvertretende Filialleiter Rüdiger Hildebrandt*. "Ich sollte einen neuen Arbeitsvertrag unterschreiben, durch den ich rund 250 Euro im Monat weniger verdient hätte", sagt der junge Mann, der in einem anderen Netto-Markt arbeitet. Statt seine Überstunden einzeln auszuschreiben, sollte Hildebrandt nur eine Pauschale von 150 Euro für Mehrarbeit bekommen. "Das habe ich abgelehnt", sagt er.
Jede zweite Lampe aus, um Strom zu sparen
Hildebrandt hat auch erlebt, mit welchen Methoden die Geschäftsleitung sonst versucht, die Kosten in den Filialen zu drücken. "Es gibt eine Anweisung, nach der jede zweite Lampe im Aufenthaltsraum und im Lager ausgeschaltet werden muss, um Strom zu sparen", sagt er. Auszubildende würden schon im ersten Lehrjahr als vollwertige, aber billige Arbeitskräfte eingesetzt. "Sie sitzen an der Kasse und schließen abends den Laden ab. Wenn das Personal knapp ist, müssen sie auch ganz allein die Filiale führen."
Aus der Sicht von Ver.di gibt es bei Netto bundesweit die Strategie, Tarifverträge zu unterlaufen. "Netto hat zwar die generellen Tarifbedingungen im Einzelhandel anerkannt", sagt Marco Steegmann, der für die Gewerkschaft auf Bundesebene das Unternehmen beobachtet. "Doch diese Tarife werden systematisch missachtet." So decke der Discounter bis zu 70 Prozent der in den Märkten anfallenden Arbeitsstunden mit geringfügig Beschäftigten ab - weit mehr als im Branchenschnitt üblich. "Diese erhalten Stundenlöhne von 6,50 Euro im Westen und 5,50 Euro im Osten", sagt Steegmann. "Dabei ist für fest angestellte Kräfte tariflich etwa der doppelte Stundenlohn vereinbart."
Bei Netto verweist man hingegen darauf, dass sich das Unternehmen seit Mai 2010 dazu verpflichtet habe, die verschiedenen Regelungen der Tarifverträge gegenüber den Mitarbeitern zu beachten. Dies werde auch umgesetzt, sagt Unternehmenssprecherin Stylianou. Geringfügig Beschäftigte würden in den Filialen zwar eingesetzt, allerdings im "branchenüblichen Maß". Dem Vorwurf, ehemalige Plus-Mitarbeiter würden gezielt unter Druck gesetzt, werde man nachgehen, falls er sich als zutreffend herausstellen sollte, so die Sprecherin. Ein solches Vorgehen widerspreche "grundlegend unseren internen Regelungen und unserer Unternehmensphilosophie". Sie räumte ein, dass im "Sinne der Arbeitsplatzsicherung und der Optimierung der Filialabläufe" eine Anpassung der Wochenarbeitszeit "in Einzelfällen" nicht ausbleibe. Dies erfolge aber immer in Abstimmung mit dem Betriebsrat.
Stylianou widersprach auch der Darstellung, es gebe eine zentrale Anweisung zum Ausschalten jeder zweiten Lampe in den Geschäften. Man habe lediglich "in den Filial-Lagerräumen vereinzelt aus ökologischen und ökonomischen Gründen die Anzahl der Lampen optimiert". Die Sprecherin bestätigte, dass Auszubildende an der Kasse eingesetzt werden. Weder die selbstständige Filialführung noch das Abschließen eines Marktes gehörten aber zum vorgegebenen Ausbildungsablauf. Generell lege Netto Wert auf eine "offene sowie partnerschaftliche Zusammenarbeit".
Bei Edeka zählt Netto zu den wichtigsten Gewinnbringern
Aus Sicht der Geschäftsleitung bleibt die rasche Expansion vor allem eine Erfolgsgeschichte. Chef Pröls verweist gern darauf, dass sich der Umsatz in den umgestellten Plus-Filialen um zwölf Prozent gesteigert habe. In der Edeka-Gruppe gehört Netto Marken-Discount - nicht zu verwechseln mit der weitgehend dänischen Kette Netto Stavenhagen - zu den Gewinnbringern. So wies Netto 2009 dank der Plus-Übernahme einen Umsatzzuwachs von 137 Prozent auf 9,9 Milliarden Euro aus. Der Gewinn lag laut "Lebensmittelzeitung" bei 170 Millionen Euro.
Doch trotz der guten Zahlen besitzt das rasche Wachstum von Netto auch in der Edeka-Gruppe enorme Sprengkraft. Schließlich besteht Deutschlands größte Supermarktkette überwiegend aus selbstständigen Kaufleuten, die wenig begeistert sind von den Preisdrückern aus dem eigenen Haus. "Die Ausbreitung von Netto tut uns richtig weh", sagt ein großer Hamburger Edeka-Händler. Es gebe keine Abstimmung mit der Zentrale, weshalb neue Märkte auch in direkter Nachbarschaft eines Edeka-Geschäfts auftauchen könnten.
Aus der Sicht von Handelsforschern könnte die unkoordinierte Netto-Expansion zu einem Problem für den Mutterkonzern werden. "Die Edeka-Zentrale muss darauf achten, dass sie die selbstständigen Kaufleute mit einer ausreichenden Beteiligung am Erfolg von Netto bei Laune hält", sagt Matthias Queck von der Handelsforschungsgesellschaft Planet Retail. Für den Experten ist ohnehin noch nicht klar, ob sich das Wachstum überhaupt rechnet. "Es gibt schon erhebliche Überkapazitäten im deutschen Lebensmittelmarkt", sagt Queck. "Die Expansion von Netto läuft auf eine Verdrängung anderer Wettbewerber heraus. Ob diese gelingt, ist nicht ausgemacht."
Auch Thomas Roeb, Professor für Handelsbetriebslehre an der Fachhochschule Bonn-Rhein-Sieg, hält die Expansionspläne von Netto für "sehr ehrgeizig". "Alle anderen Discounter haben die Eröffnung neuer Geschäfte in Deutschland weitgehend eingestellt, weil sie Sorge haben, dass sie sich selbst Umsätze wegnehmen", so der Experte.
Gabi Meyer und Rüdiger Hildebrandt haben dem immensen Druck bei Netto bislang standhalten können. Wenn sie könnten, würden sie dem Discounter allerdings lieber heute als morgen den Rücken kehren. "Man muss aber ja schon froh sein, überhaupt einen Job zu haben", sagt Meyer. "Auch wenn er noch so hart ist."
* Namen von der Redaktion geändert